Die Wahl. Von Dominique Mollet.

Kennen Sie die Modellrennbahnen von Carrera mit den kleinen Autos, die surrend in einem Gleis über die aufgestellte Bahn rasen, während der Fahrer mit seinem Daumen an einem mit einem Kabel verbundenen Drücker Gas gibt?

Jetzt stelle man sich eine solche Bahn mit 10 Schienen und Autos vor: Jedes Auto steht für einen Handlungsstrang in der Geschichte und der Autor Mollet steht an der Seite und lässt ein Auto nach dem andern losfahren....

Das ist eines der herausragenden Merkmale dieses Buches von dem Basler Dominique Mollet: Er startet die Geschichte, die mit der Internet-Wahl des Papstes endet, mit gefühlten 10 Handlungssträngen und sie alle nehmen rasch Fahrt auf, überholen sich manchmal oder fliegen aus der Bahn. Im ersten Kapitel explodiert es schon mal heftig und die andern "Carrera-Autos" auf der Rennbahn kreisen immer rascher um die Rennbahn. Das macht die Geschichte unglaublich schnell und spannend.

Man merkt sehr gut, dass der Autor sowohl Kunstgeschichte wie auch Publizistik studiert hat. In seinem Buch geht es (nach einigen Runden auf der Rennbahn) um Kunst. Und auch um "...die Wissenschaft der Massenmedien und ihrer Wirkung auf die Öffentlichkeit" (Was die Definition von Publizistik ist), in diesem Falle um den Ge- und Missbrauch der Sozialen Medien. Es ist also kein Fantasie-Gefasel sondern akkurat recherchierte (und eben studierte) Fakten.

Der Plot bzw. die Idee hinter der Geschichte könnte von Andreas Eschbach sein: Ein Szenario, das gleichzeitig undenkbar, aber auch realistisch genug ist, um nicht ins Si-Fi-Genre abgeschoben zu werden. Mollet bemüht - und da sind wir wieder bei der Modellrennbahn - viele teilnehmende Gruppen in seiner Geschichte: Islamistische Terroristen, die Kirchen allen voran der Vatikan, Klima- und andere Demonstrantinnen, die Medien, die geheimen Mächte hinter den Sozialen Medien. Daraus mischt er eine Geschichte die letztlich spannend ist, aber ziemlich fordernd für die Lesenden: Denn wenn man eines der Carrera-Rennautos aus den Augen lässt, ist es um die Kurven und kann schnell dem Blick entschwinden.

Aber letztlich ist der "Thriller" von Dominique Mollet ein gelungenes Debut. Mollet bringt alle Modell-Autos ins Ziel, wenn auch nicht gleichzeitig. Das Buch fand ich ziemlich spannend und vor allem lehrreich. Ob das alles möglich und wahr ist, was in "Die Wahl" beschrieben wird, das wird den Lesenden überlassen. Man denkt darüber nach. Und ich mache jede Wette, das war ein Ziel des Autors. Ich jedenfalls bin froh, dass der Kelch von Facebook, Twitter und Insta an mir vorbeigegangen zu sein scheint.

Das Buch kann getrost gekauft werden. Ob es in einer Zeit wie dieser unter den christlichen Weihnachtsbaum gehört, das bleibt offen. Man kann es ja auch nach den friedlichen Festtagen verschenken...

Rauch und Schall. Von Charles Lewinsky.

Charles Lewinsky ist zweifellos der vielseitigste und produktivste Autor der Schweizer Gegenwart. Theaterstücke hat er geschrieben («Drei Männer im Schnee») und TV-Serien («Fascht e Familie»), Schlager («Das chunnt eus spanisch vor») wie Musicals («Oh läck du mir!»). Und immer wieder Bücher, darunter in meinen Augen grosse Literatur wie die atemberaubende Familiensaga «Melnitz» oder die fiktiv-reale Schauspielerbiografie «Gerron», aber auch leichtere Kost wie die Fabel «Sein Sohn» über Louis-Philippes I. uneheliches Kind in Graubünden oder die Eugenspiegelei «Der Halbbart» über den fiktiven Schwyzer Erfinder der Hellebarde.  Immer handwerklich tadellos, immer unterhaltsam, immer ein Lesevergnügen.  

Zur zweiten Kategorie gehört auch die Schnurre «Rauch und Schall». Voller Schalk unterschiebt der Comedy-Profi dem von Altersbresten geplagten Johann Wolfgang Goethe einen Schreibstau. Angesichts dringender Aufträge seines fürstlichen Mäzens muss der einfallslose Dichterfürst zähneknirschend den als Stümper verachteten Bruder seiner Frau als Ghostwriter beiziehen. Dieser «Gebrauchsliterat» Christian August Vulpius bringt nun sein grosses Vorbild in Verlegenheit, indem er nicht nur das verlangte Lobgedicht für den Geburtstag der Fürstin in einer einzigen Nacht zu Papier bringt, sondern dem Titanen auch ein Rezept für die Überwindung seiner Blockade verschreibt: Seine Ansprüche an sich seien zu hoch; er solle doch für einmal ungehemmt losschreiben, und werde es auch Schund.

Tatsächlich bringt die Arbeit an einer grässlich kitschigen Klamotte über einen Räuberhauptmann und seine Geliebte Johann Wolfgang die Freude am Schreiben zurück. Dummerweise wirft er das vollendete Manuskript aber nicht selber ins Cheminée, sondern delegiert das seinem Schwager. In Geldnöten verkauft es dieser unter seinem eigenen Namen einem Verleger und landet damit den Verkaufsschlager «Rinaldo Rinaldini».

Alle drei – Goethe, Vulpius und den Roman – gab respektive gibt es wirklich. Dass der «Arztroman» des Schmierenschreibers in Wirklichkeit vom grossen Goethe stammt und umgekehrt Ersterer gefeierte Hymnen des herzoglichen Hofdichters erdichtete, ist hingegen die augenzwinkernde Erfindung des Tausendsassas Lewinsky. Wie die Beiden in der Schlussszene mit dieser Entdeckung umgehen, lohnt allein schon die Lektüre!   

Frau Komachi empfiehlt ein Buch. Von Michiko Aoyama.

Seit ich die fantastischen Geschichten von Haruki Murakami gelesen habe, schaue ich immer zweimal hin, wenn auf einem Buchcover ein japanisch klingender Autorenname steht. Die schreibenden Söhne und Töchter Nippons haben’s einfach drauf, und so hat auch der neue Roman der 53-jährigen Ex-Journalistin Mikicho Aoyama aus Yokohama meine hohen Erwartungen mehr als erfüllt. 

«Frau Komachi empfiehlt ein Buch» ist ein Episodenroman mit fünf Einzelschicksalen im  erzählerischen Fokus zwischen Realität und Fantasie. Fünf Menschen in verschiedenen Lebenssituationen – ein Buchhalter etwa, dessen heimliche Liebe Antiquitäten gilt oder die gestresste Mutter im Kampf um Vereinbarkeit von Beruf und Familie - suchen mit unterschiedlichen Anliegen ein Gemeinschaftszentrum in einem Tokioter Quartier auf. Dort landen sie in der Gemeindebibliothek, wo sie von der Chefbibliothekarin Sayuri Komachi empfangen werden. «Wonach suchen Sie?» fragt die respekteinflössende Figur alle und empfiehlt ihnen dann neben vier Büchern, die zur erhaltenen Antwort passen, jeweils ein fünftes - aus einem völlig anderen Gebiet.

Die rätselhaften Empfehlungen der weisen Frau, denen die Protagonistinnen und Protagonisten folgen, haben aber für alle ungeahnte positive Folgen. Die ebenso unverlangte wie unerwartete Lektüre eröffnet ihnen neue Denkweisen und hilft ihnen letztlich bei der Bewältigung ihrer Lebenskrisen. Bücher, weiss Frau Komachi, haben eben magische Kräfte und sind eine Quelle der Inspiration.

Für Bücherchecker und Liebhaber japanischer Erzählungen ist diese Erkenntnis allerdings alles andere als neu - und entsprechend herzlich bedanken sie sich bei Michiko Aoyama für diese neuerliche Bereicherung des Genres.

Wie die Schweden das Träumen erfanden. Von Jonas Jonasson.

Was für ein kleines, geniales Büchlein!

Sie kennen den Autor dieses Buches wahrscheinlich schon. Er schreibt Bücher, bei denen man schon schmunzeln muss, wenn man den Titel liest: "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand". "Die Analphabetin, die rechnen konnte". "Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind". Oder dann die Fortsetzung des "Hunderjährigen": "Der Hundertjährige, der zurückkam, um die Welt zu retten". Allesamt grossartige Bücher, bei denen man einfach ein permanentes Schmunzeln im Gesicht hat. Der Schreibstil von Jonasson ist durchzogen von Wortwitz und die Schilderungen von Begebenheiten, die in seinen Büchern als Nebensatz beschrieben werden, in Wahrheit jedoch die Weltgeschichte veränderten, sind einzigartig.

Jetzt liefert uns Jonasson ein Buch - besser ein Büchlein - mit einer Geschichte, die im Grunde harmlos ist. Aber in der Bedeutung für unsere Zeit geradezu gleichzusetzen ist mit einem Kapitel in der Bibel.

Im Vorwort schreibt Jonasson, dass er seinen Leserinnen und Lesern in den Zeiten von Feindschaft, Krieg und Unruhen ein Buch mit einer Geschichte anbieten möchte, in denen zwei befreundete Völker einander näher kommen (bzw. die Protagonisten...). Er liebt Deutschland und Deutschland liebt ihn. Deswegen bringt er die Eigenarten der beiden Völker in Form von den Figuren näher und entwickelt eine entsprechende Geschichte...

Und tatsächlich: Das Buch ist zwar voller kleiner Straftaten - aber die Geschichte ist einfach nur wohltuend. Ein Happy-End für die Guten, einen kleinen Sieg für die Bösen und permanenter Jonasson-Schalk, in jeder Zeile.

Wie gewöhnlich beschreibe ich den Inhalt des Buches nicht, das ist die Sache von Verlagen oder anderen Bücherblogs. Ich beschränke mich den Kauf zu empfehlen. Mehr noch: Das Buch ist ein perfektes Geschenk für Weihnachten, Geburtstage oder andere Gelegenheiten: Für das 160seitige Buch braucht man zwei Stunden bzw. zwei Tage (je nach Lesegewohnheit) und es ist nicht teuer (in der CH zwischen 27 und 33 Franken. In DE ab 17 EUR).

Haarprobe. Von Markus Wüest.

Journalistinnen und Journalisten, die sich täglich in öffentlich-rechtlichen oder privaten Mainstream- und Nischenmedien abrackern, träumen oft vom eigenen Roman, der ihren Namen auf den ewigen Olymp der Literatur tragen würden.  Die wenigsten schreiben ihn je,  und wenn es einer dennoch zwischen Buchdeckel schafft,  rubrizieren ihn Kritiker meistens unter gehobenem Dilettantismus.

Eine Ausnahme ist der stellvertretende Chefredaktor der «Basler Zeitung». Dieser Markus Wüest begnügt sich nicht mit der Administration der verbliebenen baslerischen Spurenelemente im Mantel des Zürcher «Tages-Anzeigers»; vielmehr kompensiert er den schwindenden Output einer ins Koma gesparten Lokalredaktion mit überdurchschnittlich vielen und qualititiv hochstehenden Beiträgen aus allen Bereichen (ausser dem FCB, aber auch da bin ich mir nicht sicher …) . Aufmerksame Leserinnen und Leser fragen sich, woher dieser Schwerstarbeiter die Zeit nimmt, um noch Bilder zu malen, eine Galerie zu führen (www.markuswuest.com/Galerie) und immer wieder in seinen Haus in den USA zu leben.

Und eben: Um Bücher zu schreiben. Nach «Der Amerikaner im Bundesrat» über Emil Frey hat Wüest soeben sein Opus II veröffentlicht. «Haarprobe» spielt in der Gegenwart und mehrheitlich im Coiffeursalon von Werner Friedrich in der St. Alban-Vorstadt, den dessen Sohn nach dem Unfalltod des Vaters weiterführt. In dessen Büro macht der Filius einen rätselhaften Fund, der – in Kombination mit einem zweiten Handlungsstrang im letzten Jahrhundert und dank der Unterstützung des Quartierbriefträgers - zu einer Entdeckung führt.

Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, ausser dass die Story aus der «Dalbe» mit den schrulligen Salon-Kundinnen aus dem «Daig» originell, unterhaltsam und gekonnt erzählt ist. Basel-Insider erwartet jede Menge Lokalkolorit aus der unmittelbaren Umgebung der BaZ-Büros am Aeschenplatz, und der Autor widersteht auch der Versuchung nicht, die Leserschaft ausgiebig an seinem reichen Wissensschatz teilhaben zu lassen. Dabei verliert er sich manchmal in Exkursen, etwa über den Reformator Sebastian Castellio oder die EU-Personenfreizügigkeit, die nichts mit der Geschichte zu tun haben, aber den Erzählfluss der Haupthandlung unnötig hemmen. Dass an solchen Stellen der Allround-Journalist mit dem Romancier durchgeht, fällt aber wohl nur Berufskollegen auf.

Mama Odessa. Von Maxim Biller.

Maxim Biller hat nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs gesagt, er wolle mit dem Schreiben aufhören, weil sich angesichts dieses Rückfalls in die Barbarei einmal mehr gezeigt habe, wie wenig Einfluss Literatur auf die politische und gesellschaftliche Realität habe. Die versammelten deutschen Feuilletons von der NZZ bis zur WELT äusserten daraufhin ihr Bedauern über diese Ankündigung und gaben der Hoffnung Ausdruck, dass der deutsche Schriftsteller mit russisch-jüdischen Wurzeln sie nicht umsetzen würde.

Täte er es, wäre «Mama Odessa» das letzte Buch eines äusserst produktiven Autors. Zahllos sind nicht nur seine Kolumnen und seitenfüllenden Analysen des Zeitgeschehens aus jüdischer und israelischer Optik in Deutschlands grossen Qualitätszeitungen; auch die Zahl seiner Buchpublikationen übersteigt gemäss den Angaben von Wikipedia die Dreissig. Sein Generalthema spiegelt sich im Titel eines Videos, das der engagierte Vertreter der jüdischen Sache 2004 einem von ihm produzierten Video gegeben hat: «I love my Leid».

Nichts ist also, wenn man Biller liest, mit dem heiteren Schmunzeln, das Autorinnen und Autoren mit jüdischem Hintergrund (Thomas Meyer, Yasmina Reza) ihren Leserinnen und Lesern mit ihrem speziellen Humor oft entlocken. Auch in «Mama Odessa» dominiert das Leid. Das des Erzählers Mischa mit und an seiner Familie und deren politischer Verfolgung. Der Frust seiner betagten Mutter, die gerne Schriftstellerin gewesen wäre und erst im fortgeschrittenen Alter erste Erfolge auf diesem Gebiet hatte. Das daraus resultierende schwierige Verhältnis zwischen Sohn und Mutter. Die meisten Handlungsstränge, Konfliktlinien und geografischen Verortungen in dieser Fiktion haben stark autobiografische Züge.

Einige Kritiker haben das Buch zu einem von Billers besten geadelt. Kann man so lesen, muss es aber nicht. Gerade in der aktuellen Situation mit Odessa und Jerusalem im politischen Fokus bedeutet die Lektüre von «Mama Odessa» auf jeden Fall keinen Zeitverlust.   

Eismusik. Von Philipp Probst.

Ich war sehr gespannt, ob unserem Basler Lokal-Konsalik Philipp Probst dasselbe passiert wie anderen Schriftstellern, die sich jahrelang auf denselben Ermittler oder dasselbe Set-Up beziehen: Irgendwann gehen die authentischen Ideen aus und die Geschichten werden abstrus. Z.B. Kommissär Jennerwein (Jörg Maurer) stirbt und kommt in einem anderen Körper zur Welt. Andere ermitteln als Ausweg aus der Ideenlosigkeit in einem eingeschneiten Haus oder auf einer Insel ohne Strom. Nur die ganz grossen der Gilde schaffen es, die Reihe jahrelang über Dutzende von Büchern spannend zu halten (z.B. Lee Child mit Jack Reacher oder Donna Leon mit Brunetti). Wie würde es der Reporterin Selma ergehen?

Also: Noch ist alles in Ordnung! Der Grundplot bleibt zwar immer gleich: Selma, die Reporterin ist zu Hause und möchte es gerne bleiben. Dann ruft ihr alter Mentor an, bekniet sie zwei Seiten lang und dann macht sich die umtriebige Reporterin in einen Teil der Schweiz und gerät in einen Kriminalfall, den sie dann – zusammen mit allen altbekannten Figuren in ihrem Leben, löst. Etwas Pfeffer bekommt der vorliegende Roman durch verschiedene familiäre Botschaften und durch das mehrschichtig tragische Schicksal von Selmas Lebenspartner, was gefühlt den grössten Teil des Buches ausmacht.

Propst kann wahnsinnig gut erzählen. Und er tut es authentisch. Weder hochgestochen noch abstrakt. Gerade so, als würde er Gespräche aufschreiben, die er in seiner Tätigkeit als Buschauffeur bei den Basler Verkehrsbetrieben aufschnappt. Und er beschreibt die Szenerien in seinen Büchern, als hätte er dort selbst gelebt. Das letzte Mal war es das Appenzell und in diesem Roman das Tessiner Bavona-Tal, welches im Sommer leicht belebt ist und im Winter – gar nicht. Aber nach der Lektüre des Buches würde man eine Einladung  zu einer Busfahrt ins Bavona-Tal nicht abschlagen. Man sieht die karge, bergige und zeitlose Landschaft vor dem geistigen Auge.

Ja und wie ist jetzt das Buch «Eismusik»?

Probst bezeichnet seine Bücher nicht als Krimis, sondern einfach als «Roman». Er kommt zwar nicht ganz ohne strafbare Handlungen aus. Aber meistens gibt’s keine Leichen…

Es ist also ein Buch, welches gut lesbar ist, auch für Menschen, die nichts mit Kriminalkommissären und toten Menschen anfangen können. Die Lesenden machen eine Reise in ein abgelegenes, schönes Stück Schweiz, lernen die absurde und gefährliche Welt der Social-Media-Kultur kennen und werfen einen Blick hinter die Kulissen der Schlagersternchen. Alles sehr glaubhaft und schön erzählt. Es ist ein Buch, welches sorgfältig geschrieben und vom orte-Verlag seriös und qualitativ hochstehend produziert wurde.

Noch ist man der Reporterin nicht überdrüssig, obwohl sie bereits fünf Mal auf Geheiss von Philipp Probst unterwegs war. Der Satz am Ende des Buches: «Fortsetzung folgt…» kann man also guten Gewissens stehen lassen. Er ist keine Drohung, sondern ein Cliffhanger…

Der Treibholzmann. Von Priska M. Thomas Braun

Der Aussteiger Dave Baxter lässt sich auf der Suche nach sich selbst und dem Sinn seines Lebens treiben - durch Afrika, über Frankreich nach England und zurück auf den schwarzen Kontinent. Fans der im Baselbiet wohnhaften Autorin Priska M. Thomas Braun sind ihm schon 2017 und 2020 in ihren ersten Romanen begegnet. «Eigentlich ist es eine Trilogie», gab die Autorin im September 2023 der bz Basel zu Protokoll, «jedes Buch kann aber auch für sich allein gelesen werden.»

Tatsächlich kommt man auch als Baxter-Neuling mit Geschichte und Figur der 1955 geborenen englischen Vollwaise rasch zurecht. Thomas Braun erzählt sie ausführlich und setzt dabei weniger auf tiefgründelnde Charakterstudien als auf detaillierte Beschreibungen von Land und Leuten. Kein Wunder, hat sie doch an allen Schauplätzen des Plots selber gelebt und tut es zum Teil noch heute. Weniger Gewicht als dem authentischen Lokalkolorit schenkt die frühere Journalistin den dramaturgischen Bögen eines spannenden Storytellings. Auf den meisten der 365 Buchseiten treibt die dialogreiche Erzählung unaufgeregt vor sich hin. Selten wird ein dramaturgischer Knoten geschürzt, und wenn, löst er sich ohne Drama und Folgen für die Protagonisten und ihr Handeln.

Letzteres hat wohl auch mit der Konfliktscheu des Protagonisten zu tun. Der bleibt - meist unschlüssig oder gar wider Willen – lange, verabschiedet sich dann aber, wenn es ihn weiter treibt, schnell und meist «französisch»: Von den Frauen, deren Wege er kreuzt und mit denen er oft, aber meist nur diskret beschriebenen Sex hat, auch von seiner Familie, von der er sich buchstäblich bei Nacht und Nebel und unter Vortäuschung des eigenen Todes davonstiehlt. Nur der überraschende Schluss, der nach der Formel «small world!» (fast) alle Akteure dieses und der früheren Thomas Braun-Romane vereint, funktioniert anders. Für einmal lässt Baxter sich nicht treiben, sondern wird selber aktiv.

Mehr Handlung sei nicht verraten - aber der Ausgang dieses hollywoodreifen Finales lässt doch den Schluss zu, dass es bei der Trilogie bleiben wird.

Gewässer im Ziplock. Von Dana Vowinckel.

Leser meiner Checks erinnern sich vielleicht an mein Faible für Bücher und Filme jüdischer Autoren, die meist mehr oder weniger (selbst-)ironisch jüdischen Alltag und jüdische Religiosität schildern und in der Regel damit köstlich unterhalten. In einer früheren Rezension (https://www.buechercheck.com/2021/02/06/der-boese-trieb-von-alfred-bodenheimer/) habe ich am Rande auch auf eine Spezialität dieses Genres hingewiesen: «Wem die Begriffe Moisser, Kol tuv, Tehillim, Possul nichts sagen, oder wer beim Ausdruck Tuches nicht schmunzeln muss - dem wird mit einer Glossarliste am Ende des Buches geholfen.»

Eingefleischter E-Book-Leser, der ich bin, stosse ich in der «Coming of Age»-Story Dana Vowinckels in diesem Punkt auf die in meinen Augen einzige Schwäche des elektronischen Buchs. Während man beim gedruckten lediglich ein Buchzeichen zwischen die Seiten mit dem Glossar steckt, um jederzeit innert Sekunden die Bedeutung eines unbekannten Wortes im Lauftext zu entschlüsseln, geht das im E-Book nicht oder nur mit einem höchst zeitraubenden Vor- und Zurückblättern. Wem das zu umständlich ist, muss sich Fachausdrücke wie «Schacharit» oder «Viddui» halt aus dem Zusammenhang erschliessen.

Trotz dieser elektronischen Unzulänglichkeit liest sich das von solchen Begriffen strotzende Buch «Gewässer im Ziplock» der 27jährigen deutschen Autorin leicht und flüssig. Aus der Sicht eines Teenagers schildert es eine Familiengeschichte zwischen ihrem Vater jüdischen Glaubens, der US-amerikanischen Mutter, die Mann und Tochter früh verlassen hat und ihren schrulligen Grosseltern in Chicago, bei denen sie jeweils in die Sommerferien muss. Die Story, in der auch das deutsche «Gedächtnistheater» um die Shoa (Glossar: Holocaust) eine grosse Rolle spielt, kulminiert in einer versuchten Wiederannährung von Mutter und Tochter auf einer zwischenfallsreichen Reise durch das Heilige Land. Dort trifft der Vater nach dreizehn Jahren auch seine abtrünnige Gattin wieder, und der Sorgerechtsstreit um das Mädchen bricht neu auf.

Bis dieses ungleiche Trio dann am vermeintlichen Totenbett der Grossmutter landet und Vater und Tochter schliesslich in ihre gewohnte Zweierkiste in Berlin zurückkehren, feuert  Vowinckel ein höchst unterhaltsames erzählerisches Feuerwerk ab. Und als E-Book-Addict kann man ja das auch hier angehängte Glossar am Schluss überfliegen ....

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe. Von Doris Knecht.

Wer an Jahrringen zulegt, muss über kurz oder lang seine Wohnsituation neu denken. Vom Eigenheim in eine Etagenwohnung? Von der grossen Wohnung in eine kleinere? Ins betreute Wohnen wechseln oder direkt ins Altersheim? In diese Situation gerät die Ich-Erzählerin im neuen Roman «Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe» von Doris Knecht. Ihren Mann hat sie rausgeschmissen, die Teenagerzwillinge,  die noch bei ihr wohnen, werden bald flügge. Und wie sie es auch dreht und wendet: Sie kann sich ihre grosse, schöne Altbauwohnung mitten in Wien nicht mehr leisten. Zum Glück hat sie in besseren Zeiten ein Häuschen gekauft - «am Land», wie die Österreicher sagen, und dorthin muss sie sich jetzt, wenn auch wider Willen, «verkleinern».

Diese Situation bringt sie in seelische, körperliche und materielle Nöte. Vieles von der titelgebenden Liste aller Dinge, die sie vergessen - oder vielmehr verdrängt - hat, ploppen in der Vorbereitung auf den bevorstehenden Schritt wieder auf. Die schwierige Jugend als Outsiderin der Familie neben Musterschwestern, die sie auch als Erwachsene noch gängeln und triezen. Der Alltag als alleinerziehende Mutter auf der ewigen Suche nach Unterstützung. Die Empfindlichkeit, die sie immer mehr spüren lässt als andere. Sie hasst Veränderungen, aber nun muss sie sich neu sortieren; ihren Besitz, aber auch sich als Person. «Ihr altes Leben ausmisten, herausfinden, was davon sie behalten, wer sie in Zukunft sein will. Wie ist es, wenn das Leben noch einmal neu anfängt?», wie es der Rezensent der «Welt» ausgedrückt hat.

Wer nun denkt, eine solche Story könne nur Langweile verbreiten und Druck auf die Tränendrüsen ausüben, kennt Doris Knecht nicht. Die erfahrene ehemalige Journalistin und heutige Erfolgsautorin aus Wien beherrscht ihr Metier aus dem ff. und erzählt auch diese Geschichte, die zweifellos den einen oder anderen autobiografischen Zug aufweist, locker-flockig und unterhaltsam. Mit routiniert applizierten «Wiener Schmäh» gibt sie auch zu ernsteren Aspekten ihren komischen Senf. Die naheliegende Empfehlung deshalb: Viel Spass!