Intermezzo. Von Sally Rooney.

«Ihr bisher bester!» preist ihr Verlag Sally Rooneys neuesten Roman an. Nun kenne ich dessen Vorgänger nicht, kann mir aber nach der Lektüre von «Intermezzo» gut vorstellen, dass der Superlativ seine Berechtigung hat. Die Geschichte, welche die 33-jährige Irin unter diesem Titel erzählt, erfüllt den wichtigsten Anspruch, den ich an ein Buch stelle: Es hat mich von der ersten Seite an gefesselt und bis zur letzten nicht mehr losgelassen.

In den Mittelpunkt der Story stellt die Autorin die beiden ungleichen Brüder Peter, einen charismatischen Juristen in den Dreissiger und Ivan, der mit 22 am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Schachspieler steht. Trotz eines Altersunterschieds von zehn Jahren waren die beiden als Kinder unzertrennlich, bevor sie sich in verschiedene Richtungen entwickelten und entfremdeten. Die Handlung beginnt mit der Beerdigung des von beiden verehrten Vaters, bei der sie sich erstmals wieder treffen und sich zaghaft einander wieder annähern.  

Beide beschäftigen ihre Beziehungen zu Frauen. Peter erkauft sich sexuelle Befriedigung, indem er eine um Jahre jüngere und promiske Studentin aushält und den Frust über seine geschiedenen Ehe mit einer nach wie vor geliebten und verehrten Frau mit Alkohol und Drogen betäubt. Ivan hingegen verliebt sich am Rande eines Schachturniers in eine um Vieles ältere Witwe und wird wegen der vermeintlichen Aussichtslosigkeit dieser Mésalliance vom Bruder aufs Übelste gepiesackt.

Rooney gelingt es in «Intermezzo», diese problemorientierten Interaktionen zwischen Geschwistern anders als nach dem x-mal variierten «Schema F» abzuhandeln. Die Psychogramme von Peter und Ivan sind so fein ziseliert und deren schwieriges Verhältnis zu ihren Frauen derart vielschichtig ausgestaltet, dass die Irrungen und Wirrungen der beiden Männer jede Leserin und jeden Leser mit einem Herz in der Brust in ihren Bann schlagen muss.     

Romes Tod. Von Sabine Thiesler.

Die Autorin Sabine Thiesler ist Schauspielerin und hat – nebst TV – auch Bühnenerfahrung. Und ich finde es grossartig, wie man das bei der Lektüre des Buches merkt. Da geht es nämlich um einen Schauspieler, der an seinen Rollen zerbricht, zudem  um seine Geliebte und um die Mutter des Bühnenstars.

Sabine Thiesler beschränkt sich dann nicht auf eine Geschichte, einen Plot. Nein, sie zieht vorsichtig für jede ihrer Protagonisten eine Story auf die Leine und spielt grossartig damit. Wir begleiten den irren Schauspieler, wie er sich nebst seiner Geliebten eigentlich nur mit sich selbst und seinen Rollen beschäftigt, wie sind dabei, wenn  die verängstigte Geliebte ihrem Ex nachjagt und dabei sich, ihre Belgeiterin und ihre ganze Umwelt beschäftigt  und wir sehen, wie die zu neuem Leben erwachte Mutter des Schauspielers im Leben der beiden andern eine tragende Rolle einnimmt.

Das Buch bietet Spannung und gewährt einen wunderbaren Blick hinter die Kulissen der Theaterwelt – im wahrsten Sinne des Wortes. Es bietet aber auch einen Blick hinter die Kulissen von Menschen und erzählt deren Geschichten. Im letzten Drittel des Buches kommt es dann noch zu einem gewaltsamen Todesfall, der dann alles wieder auf den Kopf stellt. Komischerweise ist das aber in der Geschichte an sich keine grosse Überraschung. Denn die Autorin schafft es, dass man sowas erwartet.

Ich habe mir die gebundene Ausgabe gegönnt (22 € in DE; 33.90 CHF) und habe ein schönes und gutes Buch bekommen. Romeos Tod liest sich flüssig und bietet eine Grundspannung, die immer wieder zum Weiterlesen animiert.

Klare Leseempfehlung. Auch für LiebhaberInnen von unblutigen Geschichten.

Long Island. Von Colm Toibin.

Karg wie ein irischer Küstenstreifen ist die Sprache, in welcher Colm Toibín in seinem neuen Roman die Liebesgeschichte von Eilis Lacey und Jim Farrell fortschreibt. Begonnen hat sie in beider (und Toibins) Heimatstädtchen Ennyscorthy, das die junge Frau einst Richtung New York verliess, ohne sich von ihrem Freund zu verabschieden. In «Brooklyn» beschrieb der 69-jährige Ire ihr Leben dort; «Long Island» handelt nun von Eilis’ Rückkehr in die Heimat und rückt die Begegnung mit dem damals geliebten Jim in den Mittelpunkt der Handlung.   

Vordergründig kehrt die Protagonistin zum 80. Geburtstag ihrer Mutter zurück. Der eigentliche Grund ist jedoch eine Ehekrise, die ihr Mann Tony, ein italienischstämmiger Spengler, durch einen Seitensprung ausgelöst hat. Vor diesem Hintergrund kommt dem Wiedersehen mit Jim, der als Wirt in seinem eigenen Pub den Ort nie verlassen hat, eine besondere Bedeutung zu. Auch deshalb, weil Farrell kurz vor dem unerwarteten Auftauchen der Ex-Geliebten der verwitweten Nancy die Ehe versprochen hat.

Mit grosser Intensität und psychologischem Einfühlungsvermögen erzählt Toibin nun von der Wiederannäherung der ehemaligen Liebenden. Das Versteckspiel im kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt und alle alles von allen wissen, ist schwierig genug; dazu kommt der Verdacht der allmählich bei Nancy aufkeimt. Eilis wird hin- und hergerissen zwischen der Pflicht, zu Mann und Kindern zurückzukehren und dem brennenden Verlangen, den Rest ihres Lebens an der Seite von Jim zu verbringen. Dieser wiederum ist bedingungslos bereit, alles hinter sich zu lassen und seiner grossen Liebe über den Atlantik zu folgen. Schliesslich durchkreuzt eine Verzweiflungstat der um ihre Hoffnung betrogenen Nancy die Pläne sämtlicher Beteiligter. Wie die Geschichte aus- und welche Liaison zu Ende geht, bleibt offen.

Die Wucht von Toíbíns Schilderung der widersprüchlichsten Gefühle wird noch verstärkt durch den eingangs erwähnten lakonischen Stil, dem Drama und Überschwang gänzlich abgehen. Cool – im wahrsten Sinne des Wortes.

Drei fast geniale Freunde auf dem Weg zum Ende der Welt. Von Jonas Jonasson.

Ich muss jetzt etwas gestehen: Der folgende Büchercheck betrifft ein Buch, welches ich erst zu drei Viertel des Gesamtumfanges gelesen habe. Aber es ist jetzt schon klar: Ein grossartiges Buch!

Das Buch von Jonas Jonasson reiht sich nahtlos ins Regal seiner Bestseller ein. Da gibt es den Hundertjährigen, der aus seinem Fenster stieg oder die Analphabetin, die rechnen konnte oder den Mörder Anders mit seinen Freunden (Kenner/innen wissen: Die Originaltitel sind länger….). Alle diese Bücher zeichnen sich durch sehr einfache Plots aus, die aber mit gefühlt Tausend Geschichten und Schlenkern angereichert, skurrile und unglaubliche Geschichten ergeben. Gespickt mit viel schwarzem Humor und Seitenhiebe auf die reale Welt.

So auch die vorliegende Geschichte. Eigentlich ganz einfach: Drei Figuren (davon einer herzzerreissend dumm) reisen in einem Wohnmobil durch Europa, weil sie dort einem bestimmten Menschen eine Ohrfeige verpassen wollen. Wie sie dann, nach einer Cocktail-Party mit Barak Obama und Ban-Ki-Moon letztlich via Rom auf einer afrikanischen Insel stranden und dort Regierungsämter ausfüllen, ist eine absolut grandiose Geschichte – typisch Jonas Jonasson. Die Erzählung ist angereichert mit humorvollen Wendungen und Andeutungen, fantastisch zum Lesen. Die Geschichte ist dispensiert, wenn es um Authenzität geht. Oder um Logik. Sie ist ganz einfach ein hochstehendes Märchen für Erwachsene.

Ich verspreche: Dieses Werk lässt niemanden kalt. Die Geschichte ist voller Humor und Herzenswärme. Auch – oder vielleicht auch weil – man mal wieder die übelsten Despoten unserer Geschichte trifft. Sie vermittelt uns, dass man, auch bei einem bevorstehenden Weltuntergang, locker und frei bleiben soll.

Kauf- oder Downloadempfehlung? Unbedingt!  

Mini Horror. Von Barbi Markowic.

Die kompetenten Literaturexperten von Schweizer Radio und Fernsehen kriegten sich vor Entzücken über die Kurzgeschichten von Barbi Markowic kaum mehr ein, worauf «Mini Horror» in allen Buchhandlungen zuvorderst lag und in sämtlichen e-Book-Stores zuoberst gelistet wurde. Als eingefleischter Fan von Short Stories griff ich natürlich zu und freute mich auf die skurrilen Episoden aus dem Leben von Mini und Miki.

Mini und Miki, deren Namen sich nicht zufällig an die Welt von Micky Maus und seiner Minnie anlehnen, überzeichnen in kurzen Stories ihre Erlebnisse im städtischen Alltag. Als alten weissen Mann erinnerten sie mich an «Herrn Schüüch» aus dem «Nebelspalter», als letzterer noch lustig war, also immer ängstlich bemüht, Allen alles recht machen zu wollen. Trotzdem – oder gerade deswegen – taumeln die beiden von einer Katastrophe in die nächste und durchleben alle möglichen Albträume einer mittelständischen Gesellschaft, von abverheiten Ferien bis zum Mobbing im Büro. Und die schildern sie durchaus witzig, immer mit einer Prise Selbstironie und oft mit einer unerwarteten Pointe.

«In ‘Minihorror’ setzt Barbi Marković den Angstarbeiter*innen unserer Gesellschaft ein Denkmal aus Perfidie und Mitgefühl, bei dessen Lektüre wir uns gleichermassen ertappt und verstanden fühlen», verheisst der Klappentext. Na ja, genau so habe ich die durchaus erheiternde und entspannende Lektüre zwar nicht in Erinnerung. Aus der Distanz, aus der ich diesen Check verfasse, stelle ich vielmehr fest, dass mir keines der Geschichtlein nachhaltig in Erinnerung geblieben ist.

Meine Empfehlung deshalb: Fein für einen Sommernachmittag am Strand.

Die erstaunliche Entdeckungsreise der Maureen Fry. Von Rachel Joyce.

Nach den Lektüren von "Gentleman über Bord" oder "Wie die Schweden..." finde ich immer mehr Gefallen an dünnen Büchern, die keine riesigen Geschichten erzählen, sondern klare Begebenheiten, die innerhalb von 200 Seiten erzählt sind. Die obigen Beispiele zeigen, wie das geht.

So kam ich dann auch nicht um die "Erstaunliche Entdeckungsreise der Maureen Fry" herum. Ich las auf dem Klappentext in der Buchhandlung, dass die knapp über 60igjährige Rachel Joyce mit diesem Buch eine Fortsetzung ihres Romans: "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" geschrieben hat. Der Klappentext (und auch das Internet) waren des Lobes voll über diese beiden Bücher. Sie wurde quasi überhäuft mit Preisen, weil sie die einfache Geschichte eines Mannes, der zwar nur mal eben zum Briefkasten wollte, dann aber 1000 Kilometer durch England marschierte und dabei allerhand erlebte, in Worte fasste. Und zugegeben: sprachlich hat es die Autorin durchaus drauf! Sie kann unglaublich gut beschreiben wie es ist, wenn eine Möve über den Atlantik fliegt oder sich eine alte, entschlossene Dame in die Hosen macht.

Joyce erzählt also im ersten Buch die Geschichte des wandernden Mannes und schreibt dann eine Fortsetzung über dessen Frau, die dasselbe Ziel avisiert, aber im Auto. Lustig sind die Begebenheiten, die eben dieser Frau auf dem Weg durch England passieren. So zum Beispiel, wenn sie an einer Raststätte einen Kaffee trinken will oder sich verfährt und um Weg-Hilfe bitten muss. Wenn allerdings die andern Seiten gefüllt werden müssen, dann lesen wir seitenlange Abhandlungen über die Gedanken der Protagonistin, die sich natürlich am Ende des Büchleins geläutert in einen andere Frau verwandelt.

Bei meiner Recherche erfahre ich, dass ich gerade eben den dritten Teil der Triologie um das komische Dreiecksverhältnis vom wandernden Mann, der autofahrenden Frau und deren beiden Ziel - eine Frau - gelesen habe. Das hilft nicht darüber hinweg, dass ich dieses Buch - oder dann alle drei - nicht mit auf eine Insel nehmen würde. Sprachlich gesehen sind die Bücher sehr gut. Aber sie haben keine weltbewegende Aussage oder Botschaft und es erstaunt mich nicht, dass wir nicht über 190 kleine Seiten hinaus kommen.

Das Buch zeigt aber auch, wie subjektiv solche Meinungen sind. Die Bücher von Rachel Joyce sind "Weltbeststeller" und die Wanderung des Mannes ist sogar verfilmt worden. Joyce ist hoch erfolgreich und deswegen zählt die Meinung des "Büchercheckers" kaum. Ich habe aber versprochen, dass ich jeweils beschreibe, was ich bei der Lektüre der Bücher fühle. Und hier fühle ich mich als Zuschauer bei der Parade, wo der Kaiser seine neuen Kleider zeigt...

Heinz Labensky und seine Sicht auf die Dinge. Von Anja und Michael Tsokos.

Der Titelheld des Buches «Heinz Labensky und seine Sicht auf die Dinge» ist eine Art Forrest Gump 2.0, ein intellektuell beschränkter älterer Herr aus der weiland DDR, staatlich deklarierter «förderungsunfähiger» Gelegenheitsarbeiter in allen möglichen Disziplinen und zu Beginn der Geschichte Bewohner eines Altenheims in Erfurt. Zur Erinnerung: Der eingangs erwähnte Filmheld begegnet VIPs von Elvis Presley bis John F. Kennedy, ohne sie zu erkennen und erfindet aus Versehen so epochemachende Dinge wie das Joggen, den Smiley und den Spruch «Shit happens».

Ähnlich steht dieser Labensky zeitlebens immer wieder im Zentrum von Ereignissen, die den Lauf der deutsch-deutschen Geschichte veränderten, ohne dass er deren Tragweite realisiert. Ein Beispiel: Als er mit seinem Taxi in Ostberlin drei Hippies auflädt, welche die «Hinrichtung der Schweine» planen, bittet er Andreas, Ulrike und Gudrun – also die führenden Köpfe der Bader-Meinhof-Bande - um Gnade für die Wildsäue. Und kreiert per Zufall nebenbei auch den Namen «Rote Armee Fraktion» für die noch namenlose Terroristengruppe.

Nach diesem Muster teilt das deutsche Autorenpaar Anja und Michael Tsokos mit der Leserschaft prägende Erinnerungen an die Geschichte der DDR und derer Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik. Dass sie uns dabei «die Sicht von Labensky» aufnötigen können, bedarf eines leider sehr plumpen Tricks. Der Protagonist erzählt die Episoden seiner und der DDR Vergangenheit nämlich auf einer Flixbus-Fahrt von Erfurt nach Warnemünde - im Schlaf zwar, aber doch so deutlich, ausführlich und in allen Details, dass auch die beiden Kinder, die afrikanische Migrantin und weitere wechselnde Sitznachbarn nicht nur alles verstehen, sondern beim – ebenfalls unrealistisch informierten - Nachfragen vom senilen Schläfer DDR-Geschichtsunterricht erhalten, wie ihn ein studierter Historiker nicht besser erteilen könnte.

Wer diese handwerkliche Schwäche auszublenden vermag, kommt aber bei dieser unterhaltsamen Geschichtsklitterung durchaus auf seine Rechnung.  

Sich lichtende Nebel. Von Christian Haller.

Von Hunden und ihren Haltern sagt man ja, dass sie sich mit der Zeit physiognomisch und  sonst zu ähneln beginnen. Den Eindruck hatte ich – natürlich mit anderen Vorzeichen – auch vom Buch «Sich lichtende Nebel» und seinem Autor Christian Haller. Auf Fotos von der Verleihung des Schweizer Buchpreises sieht dessen letztjähriger Träger aus wie ein pensionierter Brugger Geschichtslehrer: Korrekt und kompetent, trocken und arm an Temperament. Und so kam mir auch seine ausgezeichnete Novelle «Sich lichtende Nebel» vor.   

Der 82-jährige Schweizer Schriftsteller aus Brugg schreibt über den deutschen Physiker Werner Heisenberg, Erfinder der Quantenmechanik. Als einer, der an der Matur in Physik eine «2» hatte, bin ich in diesen Sphären verloren und deshalb dankbar für die Haller’sche Übungsanlage. 1925 sitzt besagter Heisenberg auf einer Parkbank in Kopenhagen und sieht, wie ein vorübergehender Mann im Lichtkegel einer Strassenlampe auftaucht, daraufhin im Dunkel verschwindet und im Licht der nächsten Laterne wieder erscheint. Aus dieser Beobachtung definiert der Wissenschafter dann seine revolutionäre Theorie. Der namenlose Passant weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung der Quantenmechanik gespielt hat, kämpft aber seinerseits mit einem physikalischen Phänomen. Der verwitwete Geisteswissenschafter stellt fest, dass er manchmal «in die Materie hineinschauen» kann, was ihm verständlicherweise nicht einmal sein letzter verbliebener Freund glauben mag.  

Diese beiden Lebenslinien verknüpft Haller zu einem «literarischen Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt», wie es Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung formuliert hat. Wider mein Erwarten hat sich bei der Lektüre der Physiknebel auch für mich phil.-I-er genügend gelichtet, um die zentrale Aussage zu verstehen. Dass ich das Bändlein auch gekauft und gelesen hätte, wenn sein Autor dafür nicht mit dem Schweizer Buchpreis 2023 ausgezeichnet worden wäre, glaube ich allerdings weniger.

Das späte Leben. Von Bernhard Schlink.

Den allethalben hochgehypten «Baumgartner» des gefeierten US-Amerikaners Paul Auster habe ich zwar gelesen, aber im Büchercheck nicht besprochen. Die ziellos mäandernde Story ohne überspannenden Bogen und ein fehlendes Ende langweilte mich mit endlosen Selbstbemitleidungen der alternden Titelfigur, deren «Chnörze» unschwer als solche des 77-jährigen Autors zu durchschauen sind.

Vom Titel und vom Alter des Verfassers her habe ich deshalb das neueste Werk von Bernhard Schlink (*1945) erst einer ähnlichen Tendenz verdächtigt. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein 76-jähriger Jusprofessor, der aus heiterem Himmel die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhält und höchstens noch drei Monate zu leben hat. Das schüttelt ihn zünftig durch, auch weil er mit einer dreissig Jahre jüngeren Frau verheiratet ist und ihr gemeinsamer Sohn noch in den Kindergarten geht. Anders als Baumgartner ergeht er sich aber nicht in selbstgerechten Jeremiaden, sondern verbringt noch möglichst viel «Quality time» mit seinen Nächsten, schafft Dinge, die sie nach seinem Tod positiv an ihn erinnern würden.

«Das späte Leben» erreicht zwar meiner Ansicht nach nicht das Niveau von Schlinks Welterfolg «Der Vorleser» aus dem Jahr 1995, ist aber immer noch um Welten besser als das selbstreferenzielle Gejammer des Kollegen Auster. Die Schilderung von Professor Brehms letzten Monaten und Wochen besticht durch die vordergründig teilnahms- und emotionslose Schlichtheit, die Schlinks Werke auszeichnet und mit welcher der Autor die grossen Fragen von Leben und Tod auf ein alltägliches Niveau herunterholt. Zum Beispiel auf das eines Komposthaufens, den der Vater mit seinem Sohn einrichtet, auf dass sich dieser bei dessen späteren Betreuung an ihn erinnern möge. Ein kleines, schönes, berührendes Buch – und für einmal ein Altmännerroman ohne jede Peinlichkeit.   

Eigentum. Von Wolf Haas.

Wo Wolf Haas draufsteht, ist in der Regel Brenner drin. Aber interessant: Im neuen Buch des 64-jährigen österreichischen Schriftstellers spielt nicht der kauzige Ermittler die Hauptrolle, den Büchercheck-Fans unter anderem als «Müll»-Experten kennengelernt haben https://www.buechercheck.com/2022/03/31/muell-von-wolf-haas. «Eigentum» ist die Lebensgeschichte von Mama Haas, die ihr Sohn beim Sterben begleitet und sich dabei in Erinnerung ruft, was er von ihr und ihrem Leben weiss.  

«Ich war angefressen», beginnt das lediglich 160 Seiten umfassende Bändchen. «Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen.» In Rückblenden blättert Haas die Geschichte einer Frau auf, die 1923 geboren und mit ihrer Familie die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und den 2. Weltkrieg durchlitten und in dieser Zeit erlebt hat, was Eigentum bedeutet, wenn man es nicht hat. Armut, Arbeit und vor allem Sparen prägten ihren Alltag, und trotzdem blieb der Erwerb eines eigenen Fleckchens Erde ein Traum, auch als das deutsche Wirtschaftswunder geschah und der Anstieg der Grundstückpreise ihren Sparanstrengungen immer zwei Schritte voraus waren.

Es kommt ja nicht immer gut an, wenn ein Serienautor die vertrauten Pfade verlässt, auf denen ihn sein Publikum gerne wandeln sieht. (https://www.buechercheck.com/2022/08/01/mord-in-der-strasse-des-29-november-von-alfred-bodenheimer/) Wer den neuen Haas liest, wird jedoch dem Brenner-Groove keine Minute nachtrauern. Zu deutlich schimmert der vertraute grantig-bärbeissige Erzählstil des Kommissars auch in dieser durch und durch sensiblen Bilanz eines langen Lebens durch. Unter dem Motto «Raue Erzählschale, weicher Sohneskern» eine sehr gefällige Lektüre.