Zwanzig Tage. Von Daniel Levin.

Daniel Levin erzählt in diesem Buch eine wahre Geschichte, die er 2014 erlebt hat, als er den Auftrag erhält, im Nahen Osten einen vermissten Sohn eines Bekannten zu suchen. Nach einer Einführung in die Thematik verstehen wir Lesenden schnell, dass diese Aufgabe, auch für einen erfahrenen Unterhändler wie Daniel Levin, etwa so realistisch ist, wie wenn man in einem Teich voller Krokodile nach einer verlorenen Uhr tauchen muss.

Ich weiss nicht, wie sehr "wahr" die Geschichte ist. Ich weiss auch nicht, woher Levin die Gabe hat, sich an so viele Details zu erinnern. Was ich aber nach der Lektüre dieses Buches weiss ist, dass ich - und wahrscheinlich der grosse Teil der Menschen - nicht weiss, was im Nahen Osten so täglich an Gewalt, Korruption, Erpressung, Drogengeschäften abgeht. Und dass bis in die höchsten Regierungskreise nichts und niemand vertrauenswürdig zu sein scheint. Es ist eine wahrhaftig scheussliche Story, die Levin hier erzählt. Sehr spannend. Und - falls sie dann wirklich wahr ist - unglaublich mutig.

Der Ausgang der Geschichte ist durchzogen. Das Ziel wird wohl nicht erreicht, aber trotzdem werden viele Ungereimtheiten wieder gerade gebogen und einige der schlimmen Typen aus dieser Geschichte eliminiert. Das hilft aber nicht über die Tragik hinweg, die z.B. junge Frauen in diesen Städten im Nahen Osten erleiden müssen. Das führt dazu, dass ich wenig Verständnis habe, wenn Frauen sich in unserer Hemisphäre benachteiligt fühlen, weil vor dem Bürogebäude nur "Besucher"-Parkplätze und keine für "Besucherinnen" bereit stehen. Da denke ich an die Kindsfrauen in den Bordellen von Dubai und das stimmt mich traurig.

Ja, es ist kein Buch für einen beschwingten Frühlingsbeginn. Aber vielleicht tut es mal wieder gut sowas zu lesen. Um zu verstehen, wie gut wir es alle hier haben. Egal ob Besucher oder -in. Das Buch liest sich schnell und flüssig. Aber - wenigstens ich - musste es ab und zu niederlegen, um meine Gedanken zu züglen.

Tagebücher I & II. Von Manfred Krug.

Eine hymnische Besprechung des Tagebuchs von Manfred Krug im Feuilleton der ZEIT weckte mein Interesse. Schon als Schüler hatte ich die «Memoiren des Peterhans von Binningen» alias Curt Goetz verschlungen und seither habe ich eine Schwäche für Biografien von Akteuren aus Theater, Film, Funk und Fernsehen. Glücklicherweise habe ich aber die Krug-Lektüre nicht mit dem zweiten, im Januar 2023 erschienen Band seines Tagebuchs («Ich bin zu zart für diese Welt», 1998/1999) begonnen, sondern mit Teil I mit dem Titel «Ich sammle mein Leben zusammen» (1996 und 1997).

Der Sänger, Schauspieler und Schriftsteller Manfred Krug, der 1977 auf dem Höhepunkt seiner dortigen Popularität aus der damaligen DDR nach Westdeutschland übersiedelte, betreibt in den lakonischen Schilderungen seiner Tage nämlich exzessives «name dropping» und setzt allerhand Wissen über das Showbusiness seiner Zeit und dessen Personal voraus. So müsste man eigentlich - noch vor den Tagebüchern - das Buch «Abgehauen» über Krugs Auswanderung aus der DDR (erschienen 2003) und seine Autobiografie «Mein schönes Leben» (2005) lesen, um die in den Tagebüchern als selbstverständlich vorausgesetzten Familienverhältnisse und das Beziehungsnetz des vielseitig Begabten und Tätigen zu überblicken und alle Zusammenhänge zu verstehen.  

Aber egal: Es ist so oder so fast unglaublich, was der Mann Tag für Tag erlebt und notiert. Knapp und lakonisch berichtet er von den Verwicklungen seines Doppellebens mit zwei Frauen und drei Kindern, von ausschweifenden nächtlichen Gelagen in der Berliner Künstlerblase der Zeit, von der rastlosen Arbeit an Dreh- und anderen Büchern, TV-Konsum zu allen Tages- und Nachtzeiten, der ständigen Fliegerei zwischen Berlin und Arbeitsplätzen auf Filmsets für Telekom-TV-Spots und natürlich von der Arbeit an den Sets von «Liebling Kreuzberg» und dem «Tatort», den er von 1984 bis 2001 als singender Tatort-Kommissar Paul Stoever gestaltete – im Duo mit Charles «Brockmöller» Brauer, der heute übrigens im Baselbieter Böckten lebt.

Man wundert sich auf jeder Seite mehr darüber, dass und vor allem wie ein derart ungesund lebender Mensch wie «MK» 1997 nicht nur einen Schlaganfall wegsteckte, sondern danach noch fast zwanzig Jahre lebte und wie besessen arbeitete, obwohl er sich selber schon 1999 immer wieder als «zum Sterben müde» aufgegeben hatte. Beste Unterhaltung!

Von Casanova bis Churchill. Von Barbara Piatti.

«And now», wie es in der TV-Serie «Monty Python’s Flying Circus» zu heissen pflegte, «for something completely different». Am 1. August auf der einst von vielen Prominenten von Queen Victoria bis Mark Twain besuchten Rigi las ich keinen Roman, sondern stöberte zunehmend fasziniert in einer Sammlung von Berichten, Briefen und Tagebucheinträgen, die berühmte ausländische Reisende auf ihrem Weg durch die Schweiz geschrieben haben.

In ihrer Anthologie «Von Casanova bis Churchill» hat die in Basel lebende Literaturwissenschaftlerin Barbara Piatti die Aufzeichnungen von 35 Persönlichkeiten zusammengestellt, die in den Jahren 1760 bis 1946 durch unser Land gereist sind. Dabei geht es häufig um Beschreibungen der ersten touristischen Hotspots des Landes, aber auch Basel wird mehr als einmal zum Gegenstand kritischer bis hymnischer Betrachtungen. Während der Ur-Kommunist Friedrich Engels keinen guten Faden an der Stadt am Rheinknie liess, äusserte sich die Frau von Fjodor Michailowitsch Dostojewski sehr positiv über die Besichtigung des Münsters und vor allem das Kunstmuseum, in dem der russische Schriftsteller von der rohen Authentizität des Holbein-Gemäldes «Toter Christus» restlos überwältigt gewesen sein muss.

Hätten Sie gedacht, dass der würdige Herr Richard Wagner ein routinierter Wandervogel war, der über die Alpen von Zürich nach Lugano wanderte und schon am ersten Tag mit Postkutsche, Schiff und auf Schusters Rappen die Strecke von Zürich bis Giswil OW zurücklegte? Trotz solcher monströser Etappen, die ihm dennoch «manchmal fast ein wenig kurz erschienen», fand der Komponist abends noch Zeit für ausführliche Briefe an seine erste Frau, die nicht nur von Hindernissen wie Blasenbildung wegen neuer Wanderstiefel berichteten, sondern auch ein interessantes Licht auf das damalige Schweizer Postwesen werfen.

Was das Buch besonders und besonders interessant macht: Piatti reiht nicht nur Original-Dokumente aneinander, sondern führt jeden Text mit einer Abbildung und interessanten und unterhaltenden Details über die Autoren sowie die Hintergründe ihrer Reisen ein.

Ein Buch ideal für den Nachttisch und eine bis zwei Häppchen täglich ...

Bis er gesteht. Von Christine Brand.

Die Autorin ist eine Schweizerin aus dem Emmental und ist eine "freie Journalistin". Sie hat für die grossen Medien in der Schweiz gearbeitet. Als "Justiz-Reporterin" bei der NZZ hat sie über einem Fall berichtet, bei welchem zwei Kinder im Schlaf getötet wurden.

Aus dieser - zugegeben - schrecklichen Anlage entstand dieses Buch, weil die Autorin Christine Brand "...diesen Fall nie vergessen konnte..."

Bemerkenswert an dem Buch "Bis er gesteht" ist allerdings, dass es nicht als simpler "Kriminalroman" daherkommt. Die Autorin erzählt die Geschichte anhand wörtlicher Vernehmungsprotokolle und Zaugenaussagen. Alles authentisch und zum sehr grossen Teil wahr (manchmal aus rechtlichen Gründen leicht abgeändert). Und es ist der Autorin gelungen eine unglaubliche und zum Teil verstörende Geschichte lesbar aufzuarbeiten und die Lesenden einzuladen, in die Verhörzimmer zu sitzen und sich selber ein Bild von den Tatverdächtigen zum machen.

In diesem Buch braucht man sich keine Sorgen über "überkanditelte Dialoge" zu machen. Was hier geschrieben steht, wurde so gesagt. Man fiebert mit. Manchmal mit den Verdächtigen und manchmal mit den Polizeimitarbeitenden.

Das Spezielle an dieser Art der Erzählung ist: Als Lesende hat man keinerlei Wissensvorsprung. Es gibt keinen Einstieg ins Buch, bei welchem die Tat beschrieben wird. Und es gibt auch keine Gedanken der Tatverdächtigen, die sie entlarven könnten. Sogesehen, ist es ein Real-Time-Roman.

Wer mit dem Doppelmord an zwei unschuldigen Kindern umgehen kann - leider keine Fiktion - der soll dieses Buch lesen und mitbekommen, zu welchen Taten Eltern fähig sein können.

Allen andern empfehle ich eine Lesepause.

Revolverchuchi/Mordfall Stadelmann. Von Peter Hossli.

Beantworten Sie sich folgende Frage: «Schaue ich gerne Dokumentationen über Verbrechen an?» oder auch «Schaue ich gerne Aktenzeichen XY im Fernsehen?». Wenn Sie beide Fragen mit JA beantworten können, dann kaufen Sie dieses Buch. Unbedingt.

Der Autor Peter Hossli hat an Weihnachten 2017 mit seinem Schwiegervater gegessen und der hat ihm die Geschichte eines Mordfalls im Jahre 1957 berichtet. Daraufhin hat Hossli mit seiner Recherche begonnen und den damaligen Mordfall in der Region Baden/Brugg minutiös aufgearbeitet.

Danach hat er sich ans Aufschreiben gemacht und heraus gekommen ist die «Revolverchuchi». Ein 230seitiges Werk, welches die Idee einer komplett gescheiterte Umsetzung eines Raubes und die Konsequenzen daraus, in einer sehr spannenden Abfolge beschreibt. Gewürzt wird die Geschichte mit kleinen Referenzen des Autors an die zeitgleich stattfindenden, internationalen Begebenheiten. So wissen wir heute, dass zu dem Zeitpunkt, als Peter Staldermann (Das Opfer) durch einen Schlag auf den Kopf mit einem Wagenheber in der Nähe von Brugg erheblich verletzt wird, beinahe zeitgleich die Hündin Laika an Bord einer Sputinik-Rakete ins All geschossen wird. Laika ist todesgeweiht. Stadelmann auch. Und das macht diese Ausflüge in die Internationale Aktualität (von denen in Brugg oder Baden niemand Notiz nahm) sinnvoll und lehrreich.

Hossli nimmt die Lesenden mit in die Zeit um 1957, zeigt das Leben auf und lässt uns, die nach 1960 geboren wurden, staunen! Da wurde noch geheiratet, wenn man denn verruchteerweise schon vor der Ehe Sex hatte und erst noch schwanger wurde. Da wurden christliche Regeln sektenartig befolgt. Da war die Politik noch Sache der Männer und absolut nicht frei von «Vetterliwirtschaft». Da wurden Abtreibungen im Hinterzimmer durch «Engelsmacherinnen» vorgenommen oder allein zuhause durch die Einnahme eines Medikamentes. Kuriose Geschichten, die man aber alle glauben muss, weil sie gut recherchiert und nicht der Fantasie des Autors entsprungen sind.

Der Höhepunkt des Buches sind allerdings die Umschlagfotos: Es sind zwei grossformatige Portraits von den beiden Hauptfiguren, sodass man sich realer Bilder für das Kopfkino während des Lesens bedienen kann: Grossartige Idee.

Generell ist das Buch sehr schön zu lesen, vorausgesetzt, man ist der Schweizer Sprache (Dialekt) mächtig. Zwar ist ein Glossar angefügt, aber es dient dem Lesespass, wenn man Wörter wie «hurtig», «Plagööri», «Siebesiech» oder «Schroter» und deren Bedeutung kennt…

«Revolverchuchi» im Hardcover kostet um die 35 Franken. Wenn man zu den JA-Beantworter der eingangs gestellten Fragen gehört, ist es das Geld definitiv wert!

Sieben sagen aus. Von Dr. Dov B. Schmorak.

Das ist kein Krimi. Es ist viel schlimmer! Ich gehe nicht davon aus, dass irgendjemand dieses Buch kaufen will. Erstens ist es 1962 erschienen und zweitens ist es sehr, sehr speziell. Aber es soll zeigen, dass – wenigstens für mich – nicht alles lesbar ist, was gedruckt wurde! Das Buch habe ich aus einer Tauschbibliothek im Quartier entnommen. Weil mich die Geschichte von SS-Monster Alfred Eichmann interessiert (ich habe die Verfilmung seiner Verhaftung gesehen), dachte ich, ich schau mir das mal an.

Nebst einer Einleitung des österreichischen Fernsehjournalisten Peter Schier-Gribowsky und einem weiteren Vorwort, werden sieben Zeugenaussagen im Eichmann-Prozess wortwörtlich niedergeschrieben. 208 Seiten lang. Ohne geschwärzte Stellen. Wir sind mitten dabei, als der Oberstaatsanwalt Zeugen und Zeuginnen befragt und sie auffordert zu schildern, was ihnen Adolf Eichmann und seine Männer in der KZ-Gefangenschaft angetan haben. Oder ihren Familien und Kameraden, die nicht mehr aussagen können.

Nach der zweiten Vernehmung habe ich aufgegeben. Ich habe die unglaublichen Schilderungen nicht mehr ertragen. Vielleicht gibt es Morde, von Arne Dahl oder sonst einem skandinavischen Thriller-Autor beschrieben, die schlimmer sind. Aber sie sind und bleiben fiktiv. Was in diesem giftig gelben Büchlein beschrieben wird, ist bzw. war real. Und das ist unerträglich.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich weiss, dass all dies passiert ist und die Entstehung dieses Buches 1962 sicher nötig war. Mich aber hat es überfordert.

Das Buch wird im Internet durch Antiquariate angeboten. Zwischen 6 und 16 EUR das Stück. Bei Amazon ist er vergriffen. Ich habe noch eins. Es ist zu haben.