Thomas Mann macht Ferien. Von Kerstin Holzer.

Der wirkungsmächtigste unter den deutschen Schriftsteller-Titanen wäre 2025 150 Jahre alt geworden. Natürlich überbietet sich die Literaturszene in diesem «Thomas Mann-Jahr» gegenseitig mit Würdigungen, Gedenkveranstaltungen und Neuauflagen. Und manch ein Autor, manch eine Autorin packt die günstige Gelegenheit, sich in und mit Manns Namen ins Feld der «Spiegel»-Bestseller zu drängen.

Dort hat die 58-jährige Münchner Journalistin Kerstin Holzer schon mehrere Werke platziert, unter anderem «Monika Mann und ihr Leben auf Capri». Die Ferienassoziation dieses Titels hatte offenbar bei der Leserschaft gezogen, so dass Holzer ihr neues Buch nun den 1918-er Ferien von «Mönles» Vater Thomas widmete. Wir erfahren von diesem Sommer am Tegernsee, dass die Kinder schwimmen und Rotaugen angeln, der Patriarch rudert, spazieren geht und erstmals einen Berg besteigt. Und dann fällt ihm auch noch ein Zahn heraus!

Aufschlussreicher als dieses Idyll ist aber die Schilderung der politischen Entwicklungen in diesem letzten Jahr des 1. Weltkriegs und ihre Auswirkungen auf Thomas Manns Seelenlage. Die Deutschen stehen kurz vor einer Niederlage, Revolution liegt in der Luft, und mit seinem monarchiefreulichen und demokratiekritischen Manifest «Betrachtungen eines Unpolitischen» hatte er sich ziemlich in die Nesseln gesetzt. Deswegen gab's auch Krach mit seinem Bruder Heinrich, und statt an seinem nächsten grossen Projekt «Der Zauberberg» weiterzuarbeiten, sinniert der dergestalt Schreibgehemmte in «Herr und Hund» einigermassen belanglos über die täglichen Spaziergäng mit seinem Hühnerhund Bauschan.

Der fluffig-unverbindliche Stil dieses heiteren Holzer-Werks wird Kinderbuchfans aus der Generation des Buchcheckers möglicherweise an den Klassiker «Die Turnachkinder im Sommer» von Ida Bindschedler (erschienen 1906) erinnern. Und aus meinem Mund ist das keine Kritik, sondern eine verbindliche Leseempfehlung!

Dream Count. Von Chimamanda Ngozi Adichie.

Frauenliteratur stand lange nicht zuoberst auf meiner To-read-Liste. Erst nach längerem Zögern hatte ich mir im März 2021 Bernardine Evaristos «Frau, Mädchen etc.» heruntergeladen - und war begeistert: https://www.buechercheck.com/2021/08/03/maedchen-frau-etc-von-bernardine-evaristo/. So griff ich ohne Zögern zum neuen Buch der aktuell vielgepriesenen 47-jährigen nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, schien der Klappentext doch ein typähnliches Konzept zu schildern: «Vier Frauen, vier Leben und die Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Liebe und Selbstbestimmung».

Bei den vier schwarzen (oder wie in der deutschen Übersetzung politically correct ‘Schwarzen’) Frauen mit nigerianischem Pass handelt es sich um die Reiseschriftstellerin Chiamaka, die zwischen ihrem Herkunftsland und ihrem US-Zuhause pendelt, ihre alleinerziehende Haushälterin Kadiatou, die Anwältin Zikora, die in Washington D.C. wohnt und Omelogor, die in der Heimat geblieben ist. Die Vier halten permanent über die Kontinente hinweg Kontakt und diskutieren ihre Probleme, die von der wehmütigen Bilanz gewesener Liebhaber («Dream Count») über die Konflikte mit der Mutter oder die Beihilfe zu korrupten Bankgeschäften bis hin zum Vergewaltigungsprozess reichen.

Leider erreicht dieser 460-seitige unablässige Austausch zwischen dem Quartett nicht annähernd die Qualität und Originalität von Evaristos Figuren und Schicksalen. Die desillusionierte Aufzählung von Chiamakas Verflossenen berührte mich gar über weite Strecken peinlich, was auch an meinem biologischen Geschlecht liegen mag. Aber dass sich die Autorin nicht geniert, für die Geschichte des Hotelzimmermädchens Katiadou 1:1 jene von Nafissatou Diallo nachzuerzählen – also jenes guineeischen Zimmermädchens, das 2010 vom französischen Diplomaten Dominique Strauss-Kahn in einer New Yorker Hotelsuite vergewaltigt worden war – ist ebenso deplaziert missionarisch wie billig. Leider hat mich das Buch über weite Strecken gelangweilt.

Als wir Schwäne waren. Von Behzad Karim Khani.

Behzad Karim Khani wurde 1977 in Teheran geboren und wuchs dort in einer Künstlerfamilie auf. Mit zehn Jahren floh er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er in Bochum Kunstgeschichte und Medienwissenschaften studierte. Seit 2003 lebt er in Berlin-Kreuzberg, wo er von 2012 bis 2022 eine Bar betrieb. Seinen Debütroman haben wir 2022 gecheckt:

https://www.buechercheck.com/2022/11/30/hund-wolf-schakal-von-behzad-karim-khani/.

Auch in seinem zweiten Buch macht Khani sein Aufwachsen als iranischer Junge in Deutschland zum Thema. Diesmal fokussiert er nicht auf die deutsche Hauptstadt als Zentrum der hauptsächlich ausländisch konnotierten Bandenkriminalität, sondern auf das Ruhrgebiet, wo er seine Jugendjahre verbracht hat. Dementsprechend schlägt der junge Wilde, in den er sich und uns zurückversetzt, versöhnlichere Töne an. Es gibt zwar auch im «Pott» Gewalt in den Strassen, aber auch heitere Momente, Demütigungen ebenso wie glückliche Kindheitserinnerungen.

Bewegend ist das Porträt, das der Autor von seinem Vater zeichnet. Der in seiner Heimat geschätzte, feinsinnige und gebildete Künstler hat sich mit dem Exil im fremden Land nie arrangiert und reagiert auf die Demütigungen des Lebens vor Migrationshinterhund mit ausdauerndem Schweigen. Der 48-jährige Deutsch-Iraner Khani erzählt aber nicht nur von den Eingewanderten als Aussenseiter der Gesellschaft, sondern auch von denen, die sie zu solchen machen. Anders als in seinem ersten Buch tut er dies weniger aggressiv, brutal und impulsiv, sondern wählt vielmehr eine bedachtere, poetische und bildreiche Sprache.

Allen, die unreflektiert die Parolen rechtskonservativer Parteien in Migrationsfragen nachbeten, sei dieser packende Roman ans Herz gelegt. Er handelt von einer Familie, die nach Deutschland kam, ohne dort wirklich angekommen zu sein. Kein leichter Stoff, aber auf jeden Fall lesenswert!

Nicht mein Leben. Von Adolf Muschg.

«Nicht mein Leben» hat der Schweizer Übervater der Hochliteratur sein neustes Buch betitelt. Doch natürlich ist es das eigene Leben, dessen letzter Phase sich Adolf Muschg in dieser Geschichte annimmt. Schon die Initialen des Protagonisten August Mormann deuten darauf hin, aber auch dessen Vorliebe für Japan, die der Historiker seiner von dort stammenden Gattin verdankt. Auch Muschg ist bekanntlich mit einer Japanerin verheiratet.

Dieser Mormann also, ein achtzigjähriger ehemaliger Schweizer Gymnasiallehrer für Alte Sprachen und Spezialist für das alte und neue Europa sucht sich in dieser Geschichte ein Grab auf einem Zürcher Friedhof aus. Seine dritte Ehefrau Akiko Kanda hat den Wunsch geäussert, dereinst an seiner Seite begraben zu werden. Bei diesem Streifzug entdeckt er die letzte Ruhestätte des ehemaligen Mitschülers Robin, dessen Freundschaft ihm in einer schwierigen Jugend eine grosse Hilfe gewesen war. Diese Erinnerung bringt Mormann dazu, sein Leben zu überdenken, und er tut das in seinem Haus und seinem Arbeitszimmer, die man aus unzähligen Reportagen über den Altmeister wiederzuerkennen glaubt. Schliesslich reist er widerwillig zu einer Tagung in Triest, die wegen des gleichzeitigen Ausbruchs des Ukrainekriegs ein Flop wird. Und als er wieder nach Hause kommt, ist seine Frau verschwunden.

Bücher von alternden Männer sind nicht immer frei von Peinlichkeit. Martin Walsers «Traumbuch» etwa fand ich schrecklich, ebenso Paul Austers «Baumgartner», auf den ich andernorts in diesem Blog verwiesen habe. https://www.buechercheck.com/2024/02/05/das-spaete-leben-von-bernhard-schlink/. Da ist «Nicht mein Leben» von einer ganz anderen Qualität. Gelassen und abgeklärt setzt sich der mittlerweile 92-jährige Autor mit dem Ge- und Misslingen seines Daseins auf der Erde auseinander; dessen nahendem Ende schaut er gelassen entgegen. Ein kleines Werk, aber grosse Literatur.

Gefährliches Wasser. Von Daniel Izquierdo-Hänni.

Das ist für den Autor ein «Lucky Punch» (und für die Betroffenen natürlich eine Katastrophe): Sein neuester Krimi mit dem taxifahrenden Ermittler Alapont und dem Thema «Wasser und Macht Valencia» war schon fertig geschrieben und beim Verlag zur Produktion, als über Valencia die Katastrophe hereinbrach und am 29.10.2024 die Stadt unter Wasser setzte. Izquierdos Heim war knapp ausserhalb der überschwemmten Zone. Dieses Ereignis und die mehrmals im Buch erwähnte Flut, die bereits 1957 Valencia heimsuchte, geben dem Buch «Gefährliches Wasser» eine geradezu unheimliche Authenzität. Der Verlag reagierte umgehend und ermöglichte es dem Autor in allerletzter Minute ein «persönliches Vorwort» zu verfassen und sich mit dem Opfern der Flut(en) zu solidarisieren.

Ja und dann ist da natürlich auch noch das Buch an sich. Ich habe an dieser Stelle auch den Erstling von Izquierdo gecheckt und wir haben damals festgestellt, dass das Buch ein schöner Reiseführer durch Valencia, verbunden mit einem Kriminalfall, geworden ist.

Ich hoffe sehr, es gäbe da draussen ein paar Menschen, die zuerst den ersten Fall, dann den zweiten und nun den vorliegenden dritten Ermittllungsfall mit Alapont, dem abgehalfterten Kommissar aus Valencia, der nun mit Taxifahren und eben «Hobbyermitteln» seine Paella verdient gelesen haben. Denn diese LeserInnen werden mir vielleicht beipflichten: Es ist augenscheinlich, wie der Autor sich entwickelt hat. Das eher dünne Buch Nr. 3 (216 Seiten) erzählt die Geschichte um das «Wassermanagement» und die damit verbundenen Tricksereien und eben auch Straffälle sehr stringent, ohne riesige Nebenschauplätze, mit genau der richtigen Dosierung von «Reiseführer» und mit einer verständlichen und gut lesbaren Sprache. Izquierdos «Alapont» kann sich ohne weiteres zu Kollege Brunetti in Venedig oder zu Montalbano in Vigatà gesellen. Er braucht sich weder im Stil noch in der Qualität zu verstecken.

Ja, ich gebe an dieser Stelle zu, dass der Autor und ich uns seit ein paar Jahren kennen (wir stammen beide aus demselben Dorf bei Basel). Aber ich habe mit ihm einen Deal: «Wir checken Dein Buch. Wenn es nicht gut ist, dann schreiben wir das!».

Deshalb kann ich mit gutem Gewissen festhalten: Das Buch «Gefährliches Wasser» von Daniel Izquierdo-Hänni ist ein gutes Buch. Tragischerweise sehr aktuell. Und ein paar Schritte weiter als seine Vorgänger. Es macht Spass, mit Alapont in Valencia umher zu streunen.

Wenn Sie nicht einverstanden sind, dann können Sie mir eine E-Mail schicken.

Ausgespielt. Von Thomas Blubacher.

Ich bewundere Autoren oder Autorinnen, die versuchen ihre historischen Interessen (z.B. in Kunst, Musik oder anderer Kultur) anstatt in trockenen Sachbüchern, besser in spannenden Kriminalromanen zu verarbeiten. Das gelingt bei weitem nicht allen. Thomas Blubacher, dessen Werke im Zytglogge-Verlag erscheinen, macht das recht gut.

Sein aktueller Kriminalroman – Ausgepielt – platziert er in die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und bedroht damit einen seiner Protagonisten. Dann spielt die Geschichte bei Filmaufnahmen in einem Tonfilm-Studio in Münchenstein/BL. Und das im Jahre 1938! Da braucht es viel Recherche und Interesse um ein Filmset zu beschreiben, welches vor über 80 Jahren Realität war. Wie wurde dazumal ein Film gedreht? Welche Beleuchtungen? Welche Kameras? Wie haben sich die "Stars" von damals bewegt und benommen?

Dann wird auch die Polizeiarbeit dieser Zeit beschrieben (obwohl da sicherlich viel «künstlerische Freiheit» angewandt wurde…). Der Onkel eines der Protagonisten leitet die Ermittlung, nicht zuletzt indem er sich ab und zu in den «Löwenzorn» begibt: «Er hatte keine Lust, sich zu Hause von der Regierung, wie in letzter Zeit jeden Tag, Vorträge über Hungerkuren, Massagen oder den Nutzen von Marienbader Brunnensalz anzuhören…Vor allem aber hatte er Lust auf einen währschaften Wurstsalat mit einem schönen, kalten Panaché». Was für eine Wohltat, wenn man auf die ewigen Hetzereien in den TV-Tatort-Krimis denkt, wo in Autos durch die Gegend gefahren wird und die alle in 90 Minuten durch sein müssen….

Blubacher beherrscht die Kunst, diese historische Zeit ins Buch zu bringen. Schon alleine der Eingangssatz des 12. Kapitels, in welchem er das Bureau (nicht Büro) des Kommissärs (nicht Kommissar) beschreibt: Es riecht nach «…. Rauch, Staub und Bodenöl». Und Staehelin (eben der Kommissär) sitzt seit «Stunden an seinem Pult und starrte auf die Liste der Personen»… Heute wäre das undenkbar, weil sowohl Handy wie Computer keineswegs ein «stundenlanges Starren» zulassen würde. Und «Rauch» oder «Bodenöl» riecht man sowieso in keinem modernen Büro aus unserer Zeit.

Das Buch kostet in der Schweiz CHF 26.90. Das ist viel für ein Taschenbüchlein mit knapp 160 Seiten. Aber gerechtfertigt für eine schöne Geschichte aus ebenjener Zeit. Im Netz bekommt man das Buch auch für 17.10 (nalda.ch) oder in Deutschland für € 22.00.

Kaufempfehlung: Ja. Aber wenn Sie nicht unbedingt in eine Buchhandlung gehen müssen – vergleichen Sie die Preise…

Zauberberg 2.0. Von Heinz Strunk.

Darauf muss einer auch erst mal kommen: Man nimmt einen Bestseller aus dem letzten Literaturjahrhundert und schreibt ihn auf die Aktualität um. Auf die nicht alltägliche Idee kam der deutsche Autor Heinz Strunk, als er realisierte, dass Thomas Mann seinen «Zauberberg» 1924 veröffentlicht hatte. Als Hommage an den Titanen legt der dreiundsechzigjährige Schriftsteller und Musiker daraufhin unter der Bezeichnung «Zauberberg 2.0» letztes Jahr eine Adapation vor. In dessen Mittelpunkt steht nicht Hans Castorps Luftkur in Davos, sondern die Burnout-Rehabilitation der Hauptfigur Jonas Heidbrink in der gottverlassenen Einöde der Mecklenburg-Vorpommer’schen Provinz.  

Man muss Ähnliches selber erlebt haben, um die köstliche Schilderung des nicht endenwollenden Rehaprogramms des ausgebrannten IT-Managers und der ihn dabei unterstützenden Fachkräfte vollumfänglich würdigen zu können. Auch die Charakterisierung der Mitpatientinnen und -patienten kommt jedem bekannt vor, der schon in einem derartigen Sanatorium seine Entlassung oder wenigstens einen Einzeltisch für die Mahlzeiten herbeigesehnt hat. Derartige Fluchtreflexe scheint Heidbrink allerdings nicht zu kennen: Während um ihn herum Gast um Gast kommt und auch wieder geht, verbringt der Mann in den besten Jahren duldsam Monate hinter den unsichtbaren Gittern der straff geführten Organisation.

Bemerkenswert ist, dass Strunk seine «Zauberberg»-Variation nicht vollständig neu aufgegleist hat, sondern immer mal wieder längere Abschnitte aus dem Original der neuen Zeit und der anderen Situation anpasst. Manchmal zitiert er auch wörtlich, weshalb ein beträchtlicher Teil der 288 Seiten des gebundenen Buchs aus Verweisen auf diese Bezüge besteht.

Man kann das Buch geniessen, ohne dass man Manns Original kennt. Es erhöht den Lesegenuss aber doch beträchtlich, wenn man es tut.

Wackelkontakt. Von Wolf Haas.

Natürlich denkt man erst einmal an den Privatdetektiv Brenner, wenn man ein neues Buch von Wolf Haas in die Hand nimmt. Nicht nur mit «Eigentum», dem berührenden Nachruf auf seine Mutter (https://www.buechercheck.com/2024/02/01/eigentum-von-wolf-haas/) hat der 65-jährige Österreicher aber gezeigt, dass er auch ohne seine Kultfigur witzigen Stoff abliefern kann. «Wackelkontakt» ist sein neuestes Opus; ich habe es mit grossem Vergnügen gelesen.

Haas ist etwas Interessantes gelungen, nämlich ein Buch, das gleichzeitig von drei Personen in allen möglichen Situationen zur Hand genommen und gelesen wird. Die eine ist Franz Escher, der auf den Elektriker wartet, weil seine Steckdose einen Wackelkontakt hat. Er liest ein Buch über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo, der als Marco Steiner in einem Zeugenschutzprogramm von Italien nach Deutschland abgeschoben werden soll. Sein deutscher Mitgefangener hat ihm fürs Deutschtraining ein Buch über einen Franz Escher, der auf den Elektriker wartet, in der Zelle gelassen. Im Fortgang der Lektüre verflechten sich die beiden Geschichten zu einer, die abwechslungsweise von Franz, Elio und später auch dessen Tochter Ala handelt und von ihnen gelesen wird. Die witzige Story über einen toten Handwerker, familiäre Geheimnisse und mafiöse Verstrickungen gerät zu einem Feuerwerk von Humor und Spannung, das die Protagonisten mit immer verblüffenderen Parallelen zu ihrer eigenen Wirklichkeit konfrontiert.

An dieser originellen Erzähltechnik gefällt besonders, dass die Perspektiven von Franz, Elio und Ala im Layout nicht besonders markiert werden, sondern nahtlos und manchmal mitten im Fliesstext wechseln. Mehr als einmal musste ich einen solchen Übergang nochmals lesen, um den Sprung von einem Erzählstrang zum anderen mitzubekommen. Und gegen Schluss nimmt die witzige Handlung dermassen viel Fahrt auf, dass man die letzten der 160 Seiten bis hin zur verblüffenden Auflösung dieses Mafia-Thrillers atemlos verschlingt.       

Pi mal Daumen. Von Alina Bronsky.

Wie es der Buchtitel vermuten lässt, entführt uns die russisch-deutsche Autorin Alina Bronsky mit ihrem neuesten Buch in die Welt der Mathematiker. Wer von dieser schwierigen Materie und ihren Fachausdrücken wenig Ahnung hat, kann einige Passagen aber getrost überspringen; es bleibt immer noch genug Stoff für ein unterhaltsames Leseerlebnis übrig.

In der Geschichte geht es um zwei ungleiche Studierende der Mathematik. Ein hochbegabter und entsprechend nerdiger 16-Jähriger aus adligem Haus trifft im Hörsaal auf die jung gebliebene (und aussehende) Grossmutter, die sich ohne das Wissen ihrer Kinder und Enkel den Traum vom Studium erfüllt. Nachdem Oscar diese Monika Kosinsky erst für die Putzfrau der Mensa gehalten hat, gibt er ihr mit guten Ratschlägen und gelegentlichen Spickzetteln gutmütig Starthilfe in die vermeintliche terra incognita. Nach diversen Irrungen und Wirrungen, die auch in die beiderseitigen Familien ausstrahlen, entwickelt sich aus der Studien- eine zeitweilige Lebensgemeinschaft dieser total unterschiedlichen Charaktere aus zwei völlig verschiedenen Welten.

Gegen Ende des Romans stellt sich allerdings heraus, dass Monika Kosinsky eine Vergangenheit und durch diese mehr Ahnung von Mathe und ihren Geheimnissen hat als es sich Oscar je hätte vorstellen können. Wie er neidvoll erkennen muss, hat sie in ihrer Jugend sogar seinen bewunderten Professor gekannt. Nun ist dieser Monis Doktorvater und winkt ihre Masterarbeit kommentarlos durch. Auch deren Verteidigung im Hörsaal gerät Moni zum Triumph. Das Ending ist allerdings dann nicht so happy, wie man es zum Schluss eines Wohlfühlromans erwarten könnte. Auch bleibt offen, ob die Spätberufene ihre Karriere weiterverfolgt und wie sich die ungleiche Liaison des Jünglings mit der Oma weiter entwickelt.

Ich sag’s Pi mal Daumen so: Leichte Lektüre, die man nicht gelesen haben muss, die einem aber gut unterhält.     

Hey, guten Morgen, wie geht es Dir? Von Martina Hefter.

Während ich diesen Check schreibe, berichtet das Radio von einer deutschen Dame, die Elon Musk 12'000 Euro überwiesen hat und sich danach wunderte, weshalb dieser auf Nimmerwiederhören und mitsamt der Kohle aus ihrem Leben verschwunden ist. Dass der Welt reichster Mann sie auf einer nigerianischen Telefonworwahl kontaktiert und eine momentane finanzielle Notlage geltend gemacht hatte, hat die Gute offenbar nicht misstrauisch gemacht …

In dieses Milieu des «Love Scammings» entführt uns die 59-jährige deutsche Schriftstellerin Martina Hefter in ihrem Roman «Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?». Mit ihrer Hauptfigur teilt die Autorin das Alter und den Beruf als Performerin; ob sie auch einen schwerkranken Mann namens Jupiter zu betreuen hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Zur Ablenkung von der fordernden Aufgabe und ihrer prekären beruflichen Situation chattet diese Juno in schlaflosen Nächten auf Datingplattformen mit professionellen Betrügern, die leichtgläubigen Frauen mit gefakten Profilen Liebe vorgaukeln, bevor sie sie im Idealfall – für sie - ausnehmen wie Weihnachtsgänse.

Juno spielt das Spiel dieser «reichen Unternehmer», «pensionierten Piloten» und «gut situierten Alt-Studienräten» jeweils eine Weile mit und garniert es mit eigenen Lebenslügen aus, bevor sie die arbeitslosen Boys in den Internet-Cafés in Afrika erbarmungslos enttarnt. Mit einem von ihnen chattet sie jedoch auch danach weiter und trotz der Entfernung entsteht eine Verbindung mit diesem Benu.

Hefter ist für diesen tiefgründigen, aber dennoch humorvollen und vor allem nie zynischen Roman 2024 verdientermassen mehrfach ausgezeichnet worden. Als Höhepunkt hat sie damit auch den Deutschen Buchpreis gewonnen, und den hat sie sich mit diesem Buch redlich verdient. Es kommt vordergründig leicht und luftig daher und macht bei der Lektüre jede Menge Spass. Aber es ist grosse Literatur, und man lernt nebenbei einiges über die Motive dieser Internet-«Elon Musks» und der von ihnen eingewickelten Frauen …