Eiskalter Greifensee. Von Gabriela Kasperski.
Es war an einem schönen Frühlingstag auf dem noch nicht so windigen Sächsilüüte Platz, wo ich mir die Zeit bis zum Mittagessen vertreiben musste. Da bot sich eine grosse und einladende Bücherhandlung an und ich ging in diese und kaufte ein paar Bücher von AutorInnen, von welchen ich noch nie etwas gelesen hatte. Da braucht man sich nicht zu schämen: davon gibt es Hunderte!
Nun, ich wählte - unter anderen - das Buch von Gabriela Kasperski aus: Eiskalter Greifensee. Ich erwartete einen etwa harmloseren Krimi mit Lokalkolorit. Darunter verstehe ich ein Plot, angehaucht mit den Lebensarten und -umständen von den ProtagonistInnen, die in der beschriebenen Region zu Gange sind.
Und tatsächlich: genau das bekam ich!
Zudem enthielt der Umschlagstext einen Hinweis, welcher für mich meistens ein Trigger für den Kauf eines Buches ist: "Der erste Fall für Schnyder und Meier". Das lässt die Hoffnung zu, dass man von Anbeginn einer steilen Karriere von zwei Ermittlern dabei sein kann. - Ich denke allerdings nicht, dass mir die beiden nochmals unterkommen werden.
Der Plot des Kriminalromans ist tatsächlich harmlos. Nicht kompliziert, was ja nicht schlecht sein muss. Aber es fehlt leider auch diese Art Spannung, die mich dazu bringen würde, eine Stunde früher ins Bett zu gehen, um möglichst viele Seiten lesen zu können. Zudem haben die beiden Ermittler - wovon nur einer, der Kommissar, ein richtiger ist - noch nicht zueinander gefunden. Das ändert sich zwar im Laufe des Buches und endet sogar in einer Love-Story. Aber so richtig Fahrt haben die beiden (noch) nicht aufgenommen.
Das Buch liest sich gut und es gibt wenig, worüber man sich aufregen könnte. Gabriela Kasperski hat bisher viele Bücher veröffentlicht, die "Schnyder und Meier"-Reihe ist mit dem Siegerinnen-Roman des Zürcher Krimipreis "Zürcher Verstrickungen" bereits bei der achten Ausgabe angekommen. Vielleicht kaufe ich mir gelegentlich noch eins der Bücher um zu erfahren, wie sich diese Reihe weiter entwickelt hat. Aber grundsätzlich hat mich das Buch nicht richtig gepackt. Aber ich halte fest: Ein schlechter Krimi ist es nicht!
Der Kojote. Von Lee Child.
Ich sollte aufhören, die Bücher von Lee Child mit seinem Helden "Reacher" zu beschreiben. Denn es kommt immer auf dasselbe heraus: Die Geschichten sind - allesamt - hoch spannende, fantastisch geschrieben und stilmässig ganz grosse Klasse.
"Der Kojote", Platz eins auf der Bestseller-Liste der New York Times, erschien 2021 in englischer Sprache und wurde 2024 von Wulf Bergner ins Deutsche übersetzt. Bergner macht einen grossartigen Job: Er beschreibt Reacher und seine Ermittlungsmethoden in einem Stil, bei welchem man sich nicht langweilen muss. Klar - Lee Child führt seinen Helden durch Dutzende von Angriffen, Kämpfen und Tricks, und bei keinem unterliegt der Teufelskerl, sodass sich die Lesenden vor einer brenzligen Situation zurück lehnen können im Wissen, dass es klappen wird. Das ist zwar weniger spannend, aber es entbindet einem auch davon, dass man skeptisch ist und hoffen muss, dass alles gut kommt.
Lee Child kompensiert dies mit einer spannenden Geschichte, deren Plot man nicht hinterfragt sondern flüssig und rasch verschlingt. Jack Reachers Ausdrucksweise ist prägnant, klar und direkt. Und seine Gefühle sind einfach zu verstehen. Weil Reacher eine Einzelmaske ist, sind auch die Personenstränge sehr klar: Es gibt nur 2 - 3 gute Figuren im Roman. Der Rest sind "Feinde" und "Gegner". Auch das ist ein Grund, weshalb die eigentlich recht dicken Bücher einfach zu lesen sind.
Sie sollten mal einen "Reacher" probieren. Egal welchen. Die Serie besteht seit 25 Jahren und beinhaltet bisher ca. 29 Bücher. Und alleine das ist ein Ausweis für den riesigen Erfolg von Lee Childs Figur. Ganz abgesehen von der Verfilmung und der Netflix-Serie.
Der Donnerstags Mordclub und die verirrte Kugel. Von Richard Osman.
Das Buch liegt lange auf meinem Schreibtisch und scheint mir zu sagen: "Jetzt schreib doch endlich den Check, dann hast Du es hinter mir!"
Es ist mal wieder ein Buch, bei welchem ich sicher bin, dass es - mit seinen Geschwisterausgaben - eine grosse Fangemeinde hat. Und deshalb ja nicht einfach ein "schlechtes Buch" sein kann. Aber da muss ich jetzt durch. Dieser Blog zeichnet sich ja dadurch aus, dass der Checker seine persönlichen Empfindungen beim Lesen des Buches beschreibt. Und eigentlich nicht den Inhalt oder die Fähigkeit des Autors oder der Autorin. Und deshalb, faadegrad: Ich habe mich bei der Lektüre des Buches ganz einfach ... gelangweilt. Wäre es nicht ein Buch zur Veröffentlichung im Blog, dann hätte ich es beiseite gelegt. Für Regentage oder für den unwahrscheinlichen Fall, dass mir sämtliches Lesematerial ausgegangen ist.
Aber ich habe mir schon ein bisschen die Mühe gemacht herauszufinden, weshalb mich das Buch nicht gepackt hat.
Da ist einerseits der Plot, der irgendwo zwischen abstrus und uninspiriert anzusiedeln ist. Darüber muss man sich nicht wirklich auslassen. Denn ich habe schon Werke mit absolut weltfremden Plots gelesen, die aber spannend oder lustig oder beides waren. Davon habe ich beim Donnerstagsmordclub nichts gemerkt.
Und dann: Die ProtagonistInnen sind zwischen 75 und 80 Jahre alt. Das wäre eine Chance, das Buch "speziell" zu gestalten. Aber die Hinweise auf das Alter der "Ermittelnden" beschränkt sich auf die üblichen Gebrechen alter Menschen, die aber dann trotzdem Verbrecher finden, verfolgen und stellen können. Das passt alles irgendwie nicht zusammen. Jedenfalls nicht für mich.
Es gibt noch mehrere "Donnerstagmordclub"-Bücher von Richard Osman. Und ich bin sicher, er hat eine grosse Fangemeinde (Ü70), die seine an sich lesenswerte Schreibart lieben. Ich werde mich dieser aber nicht anschliessen.
Der Trip. Von Arno Strobl.
Die Beschreibung des Autors im Klappentext lautet: "Arno Strobl liebt Grenzerfahrungen und nimmt seine Leserinnen und Leser dabei gerne mit. Deshalb sind seine Thriller wie spannende Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln der menschlichen Seele und machen auch vor den grössten Urängsten nicht halt! - Seine Themen spürt er dabei meist im Alltag auf..."
Das vorliegende Buch ist dann noch mit dem Untertitel "Psychothriller - Du hast Dich frei gefühlt. Bis er Dich fand." versehen. Alles das weist darauf hin, dass man ein Buch vor sich hat, welches sich ohne weiteres als Vorwort für Stephen Kings „Es“ eignen würde. Und ich persönlich finde, das ist ein bisschen übertrieben.
Strobel kann spannende Geschichten schreiben. Und das hat er auch schon sehr oft bewiesen. Die Liste seiner Werke ist bemerkenswert umfangreich und er gilt als „Bestseller Autor“ bei Spiegel. Aber dennoch muss man kritisch mit dem vorliegenden Werk umgehen.
Die Story ist relativ einfach, was ja nicht schlecht ist. Aber da er ja – wie er selber schreibt – seine „Themen im Alltag aufspürt“, bleibt der Plot vom „Der Trip“ auch sehr einfach. Denn ein „Thriller“ (oder gar ein Psychothriller) kommt nicht wirklich vor im Alltag. Oder wenigstens nicht offen. So spürt man bei diesem Buch, dass der Autor sich viele Dinge ausdenkt, die seine Geschichte vorwärtsbringen. Und viele von diesen Umwegen sind sehr oberflächlich, voraussehbar und wenig spannend.
Es gibt im ganzen Buch viele kleine Momente, wo man sich als Leser/in etwas überrascht zeigt. Aber die wirklich grosse Wendung fehlt. Und deshalb ist es – meiner Meinung nach – kein Thriller. Und schon gar kein Psychothriller. Von "Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln..." ist da nix zu spüren.
Nun ist es so, dass ein „Strobel“ nicht einfach schlecht sein kann. Das Buch ist ein ansprechender Krimi mit sehr grossem Tempo und viel Action. Aber ein Thriller, ein Pageturner oder ein absolutes „Must-Have“, finde ich, kommt anders daher.
Fazit: Wenn Sie diesen „Strobel“ nicht kaufen, verpassen Sie nichts. Wenn Sie es doch tun, dann ist das absolut ok. Wie gesagt: Kein schlechter Krimi!
Ein schönes Ausländerkind. Von Toxische Pommes.
Zu den erheiterndsten Leseerlebnissen in der NZZ am Sonntag der letzten Jahre gehörte die Fortsetzungsgeschichte über den italienischen Vater und die Schweizer Mutter von Olivia El Sayed. Auf höchst amüsante Weise hat die Zürcher Spoken-word-Künstlerin und Kabarettistin aus Winterthur die geschiedene Mischehe ihrer Eltern im Programm «flowery wordis» und dem daraus entstandenen Buch «Scheidungskinderclub» geschildert und damit vor allem ihrem exzentrischen Papa ein ebenso liebevolles wie sarkastisches Denkmal gesetzt.
Dasselbe hat auch eine österreichische Satirikerin mit kroatischem Migrationshintergrund versucht, deren Künstlerinnenname das Originellste an der Abrechnung mit dem eigenen Erzeuger ist. «Toxische Pommes», die in Wirklichkeit Irina heisst und laut Wikipedia keinen Nachnamen hat, emigrierte als kleines Mädchen mit ihren Eltern aus ex-Jugoslawien nach Wiener Neustadt. In diesem gesichtslosen Industrieviertel weitab der österreichischen Hauptstadt legen sie und ihre Mutter eine mustergültige Integrationskarriere als Musterschülerin und Meisterschwimmerin respektive Pharmazeutin hin, während der desillusionierte Vater es trotz seines Ingenierstudiums nicht über den frustrierenden Status eines des Deutschen nicht mächtigen Hausmanns mit Putzfimmel und anderen Macken hinaus schafft.
Diese Konstellation, die anfänglich von der Untermiete bei einer übergriffigen Vermieterin und danach dem familiären Zusammenleben in einer engen Mietwohnung zusätzlich belastet wird, führt zu dauernden Reibungen vor allem zwischen Vater und Tochter (die jener hartnäckig als «Söhnchen» bezeichnet). Über 200 Seiten arbeitet sich Pommes an den Charakterschwächen und Macken ihres hassgeliebten Erzeugers ab. Dass sie dafür ausgiebig slawische Sätze und Redewendungen verwendet, zu denen sie die deutsche Übersetzung mitliefert, täuscht nicht über die sprachliche Einfallslosigkeit und das ewige Wiederkäuen von Frust und Enttäuschung hinweg, welche die Ich-Erzählerin auf dem Weg zum schliesslich erstrittenen österreichischen Bürgerbrief – und dem gefühlten Verlust des Vaters – heimsuchen. Büchercheck-Befund: Ansprechend, aber kein Vergleich mit El Sayed!
Nach oben sinken.Von Wilfried Meichtry.
Wer von der Generation Boomer den Eindruck hat, seine Jugend sei in beengender Weise von Zwängen einer verknöcherten Gesellschaft überschattet gewesen, sollte «Nach oben sinken» von Wilfried Meichtry lesen. In seinem halbautobiografischen Roman schildert der 68-jährige Schweizer Historiker, Schriftsteller und Drehbuchautor das Aufwachsen eines Knaben in der Enge des Kantons Wallis der 1970er Jahre. Und derart beklemmend wie hier sind Kinder- und Jugendjahre wohl für die wenigsten 68-er gewesen ...
Vor allem die katholische Kirche und ihre lokalen Repräsentanten setzen in dieser Geschichte die Leitplanken für das Tun und Lassen der Bevölkerung. Aus heutiger Sicht mutet es unwirklich an, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Menschen damals den moralischen Imperativen aus Rom unterwarfen und wie willig und unhinterfragt sie den Geboten folgten, die ihnen ein windiges Dorfpfäfflein ex cathedra wie auch hinten herum diktierte.
Dieser Mief bremst den namenlosen Ich-Erzähler vorerst in seinem Fortkommen. Der talentierte Heranwachsende scheitert im Gymnasium, als Arbeiter in der Aluminiumfabrik Chippis (die damals mit stillschweigender Unterstützung der Regierung mit ihren ungefilterten Abgasen das ganze Tal vergiftete) und als Schafhirte. Sein Verhältnis zu den wortkargen Eltern und der stockkatholischen Grossfamilie ist entsprechend gespannt, und es verbessert sich durch seine hartnäckigen Nachforschungen nach dem Verbleib eines unter mysteriösen Umständen verschollenen Grossonkels auch nicht gerade.
Bis mir eine «Büchercheck»-Leserin den neuen Meichtry empfohlen hat, kannte ich den Autor aus Leuk-Susten, der heute in Burgdorf lebt, nicht. Nach der anregenden und immer wieder auch auf wohltuende Weise humoristisch erheiternden Lektüre von «Nach oben sinken» werde ich mir aber demnächst weitere Werke des Vielbegabten vornehmen. Warme Empfehlung!
James. Von Percival Everett.
Nachdem mir Percival Everetts Roman «Erschütterung» gut gefallen hatte (https://www.buechercheck.com/2022/05/02/erschuetterung-von-percival-everett) griff ich mit hohen Erwartungen zum neuen Roman des 68-jährigen US-Schriftstellers. In «James» erzählt der Literaturprofessor die «Abenteuer des Huckleberry Finn» von Mark Twain aus der Perspektive des schwarzen Sklaven Jim. Dieser heisst nun James, und sein Auftreten als unterwürfiger Leibeigener samt infantil-debil-radebrechender Sprache ist nur geschickte Tarnung, um den Vorstellungen der weissen Herrenrasse zu entsprechen. In Wirklichkeit kennt James die Voltaire’sche Forderung nach der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, schreibt in unbeobachteten Momenten seine Lebensgeschichte und spricht mit seinesgleichen – also mit anderen Sklaven – in ganz normaler Standardsprache.
Als dieser James von seiner Familie weg in einen anderen Landesteil verkauft werden soll, ergreift er zusammen mit Huckleberry die Flucht. Auf ihrer gefahrvollen Reise entlang des Missisippi geraten die beiden Vogelfreien in eine gefährliche Situation nach der anderen. Wie das literarische Gegenstück von Twain handelt auch «James» von Menschen und Orten an den Ufern des «Ol’ Man River» und eröffnet beklemmende Einblicke in Rassismus und Sklaverei, die Mitte des 19. Jahrhundert vor allem im Süden der USA noch fest verwurzelt waren und schliesslich zum Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten führten.
Der Roman ist trotz gelegentlicher philosophischer Exkurse über Freiheit und Gleichheit durchwegs spannend. In der deutschen Version wird das Lesevergnügen von der Umsetzung der Sklavensprache etwas getrübt. Die verschliffene Mischung zwischen Cockney, Berlinerisch und Rapperslang, in der sie Übersetzer Nikolaus Stingl wiedergibt, wirkt in der permanenten Wiederholung als Stolperstein. Aber abgesehen davon ist «James» ein grossartig aufgefrischtes Zeitdokument und funktioniert, auch wenn man das Original von Mark Twain nicht gelesen hat. Zum besseren Verständnis von «James» dient es aber allemal.
22 Bahnen. Von Caroline Wahl.
Und wieder einmal bin ich auf die Expertenrunde des Literaturclubs des eidgenössischen Farbfernsehens Beromünster hereingefallen. Vor ein paar Monaten pries diese das neue Buch von Caroline Wahl mit dem Titel «Windstärke 17» in den höchsten Tönen. Immer gewillt und bereit, auch die überübernächste Kreativgeneration kennen zu lernen und deren Schaffen zu würdigen, lud ich mir erst einmal das ebenso hochgelobte Debüt der 29-jährigen Heidelbergerin auf den Reader.
Der Titel «22 Bahnen» bezieht sich auf die Strecke, welche die Protagonistin jeweils im Gartenbad der öden Kleinstadt zurücklegt, in welcher sie mit einer kleinen Schwester und ihrer alkoholsüchtigen Mutter lebt. Der tägliche Schwumm ist die Konstante in ihrem stressigen Alltag zwischen Studium, Job an der Supermarktkasse, Betreuung der Schwester und Chaosmanagement der dauerbetrunkenen Mutter. Und – unausweichlich bei derartigen Jungfrauenplots - der Ort, an dem sie mit einem vorerst unerreichbar erscheinenden Mitschwimmer anbandelt. Diese tüchtige Tilda wird kurz vor dem Masterabschluss für eine attraktive Stelle in Berlin empfohlen und muss sich nun neben vielen anderen Fragen auch der alles entscheidenden stellen, ob sie es verantworten kann, die Schwester mit der alkoholsüchtigen Mutter allein zu lassen.
Weshalb nun aber «hereingefallen»? Nun, das Buch, das eine wohlwollende Kritik auch ausserhalb der SRF-Literatursendung als «gelungenen Coming-out»-Roman würdigt, ist mir eher vorgekommen wie ein gelungener Maturaufsatz in einfacher Sprache. Weit und breit keine Spur von Spannung und Dynamik, wenig Formulierungsvermögen, null stilistische Rafinesse. Ein Befund, der sich mir in den letzten Monaten immer wieder bei hochgehypten deutschen Jungautorinnen aufgedrängt hat. «Windstärke 17» kommt bei mir jedenfalls nicht auf die Leseliste.
Sobald wir angekommen sind. Von Micha Lewinsky.
Auch ein Büchercheck darf einmal mit einer Platitüde beginnen. «Wie der Vater, so der Sohn» denkt der Verehrer des Zürcher Tausendsassas Charles Lewinsky, wenn er sich auf den neuesten Roman dessen Sprösslings Micha einlässt. Derselbe trockene Humor, eine ähnlich ausgeprägte Gabe zur Beobachtung und Schilderung alltäglicher Freuden und Peinlichkeiten in einer nicht besonders religiösen jüdischen Durchschnittsfamilie, vergleichbare Sicherheit beim Setzen mehr oder weniger überraschender Pointen: Vieles kommt einem vertraut vor, ohne dass dem Junior das Werk zu einem reinen Imitat väterlichen Schaffens geriete.
«Sobald wir angekommen sind» handelt von der überstürzten Flucht des Zürcher Juden Ben Oppenheim vor dem Atomkrieg, auf den er sich seit Jahren innerlich vorbereitet und den er mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine unmittelbar bevorstehen sieht. Mit seiner von ihm getrennt lebenden Gattin und den beiden Kindern fliegt der erfolglose Schriftsteller und wenig beschäftigte Drehbuchautor Hals über Kopf nach Brasilien. Zwar lässt der Nuklearangriff auf sich warten, dafür nähern sich Ben aber und seine Frau einander auf eine Weise wieder an, die lange nach einem Neubeginn der ehelichen Gemeinschaft aussieht. Wäre da nur nicht die in der Schweiz gebliebene Geliebte, die den ewigen Zauderer immer wieder zwischen der Geborgenheit in der Familie und der Sehnsucht nach sexueller Erfüllung hin- und herschwanken lässt.
Nach 290 Seiten bestens unterhaltendem Hin und Her zwischen Liebe und Sex, Vernunft und Sehnsucht, Ratio und Emotionen, Wunschträumen und Finanzproblemen mündet die Geschichte ins vorhersehbare Finale: Der Atomangriff ist abgesagt und die vernünftige Gattin organisiert den Rückflug und das Geld dafür. Ben aber macht Stunden vor dem Abflug endlich den Besuch in Petropolis, wohin sein ebenfalls nach Brasilien ausgewandertes Idol Stefan Zweig damals ausgewandert ist. Und kehrt von dort enttäuscht und ernüchtert, aber letztlich mit seinem Schicksal versöhnt in den europäischen Alltag zurück. Ein grosses Lesevergnügen!
Vermisst - Der Fall Anna. Von Christine Brand.
Wenn ich auf dem Tisch in der Buchhandlung meines Vertrauens ein schönes Cover mit einem spannenden Titel sehe, und mir aber der Name des Autors oder der Autorin nichts sagt, dann lese ich hurtig den Klappentext. In diesem Falle wurde mir sehr beeindruckend die Vita von Christine Brand serviert und zwar so, dass ich mich am Schluss fast schon ein wenig geschämt habe, dass ich den Namen vorher noch nie gelesen hatte. Christine Brand hat schon ein paar Kriminalromane geschrieben, ist Gerichtsreporterin, war Redakteurin bei der NZZ und lebt jetzt auf Sansibar. Zudem ist sie «Spiegel Bestseller Autorin». Gekauft (26.50 CHF).
Dann die erste – zeitweilige – Ernüchterung: «Der Fall Anna» liest sich zu Beginn sehr einfach und man fragt sich sofort, wie denn die Geschichte, die nicht wirklich kompliziert daher kommt und in einer sehr einfachen und klaren Sprache verfasst ist, über 530 Seiten Bestand haben will? Ganz kurz dachte ich, dass ich vielleicht einen Fehlkauf getätigt hätte.
Mit den verschlungenen Seiten allerdings ergab sich dann folgendes Bild: Die Autorin schälte die Protagonistinnen in diesem Buch langsam, dafür umso klarer hervor. Die Geschichte wird in einem guten Tempo erzählt und hat keinen Unterbruch und keinen Hänger. Vor allem werden nicht permanent Drehungen eingebaut, die Schwindel hervorrufen. Der Plot wird ziemlich klar und deutlich erzählt. Es ist, als wäre man dabei.
Diese Autorin schafft es, mit einem unverblümten Stil ohne Firlefanz eine Geschichte zu erzählen. Manchmal doch etwas langfädig, aber immer mit Blick auf das Weitertreiben der Geschichte. Nachvollziehbare Gemütswelten der agierenden Personen, authentische Erklärungen und ein Ende, welches durchaus Sinn macht.
Ich weiss nicht, ob es die Erfahrung der Autorin aus den Gerichts- und TrueCrime-Arbeiten ist: Das Buch kann man durchaus kaufen und ist eine schöne, leichte und spannende Sache für auf den Liegestuhl am Strand.
Kaufempfehlung: Man hat das Geld schon sicherlich schon unvernünftiger ausgegeben… Ich warte mit Freude auf die Fortführung der Reihe um Malou Löwenberg.