Wenn die Witwe ... Von Saŝa Staniŝić.

Von den durchschnittlich 2'000 Zeichen (inklusive Leerschläge) eines durchschnittlichen Buchchecks auf diesem Blog verbraucht der Titel des neuesten Werks von Saŝa Staniŝić bereits über 100: «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne» überschreibt der 46-jährige deutsch-bosnische Schriftsteller seine Storys über Entscheidungen. Und fragt in unterschiedlichen Fällen und Ausgangslagen, was gewesen wäre oder einträte, wenn man sich anders entschieden hätte als man es getan hat.

In kurzen, übersichtlichen Episoden macht uns Staniŝić mit Menschen bekannt, die vor solchen Entscheidungen stehen. Die eine unübliche Wahl getroffen haben, den schwierigeren Weg gegangen sind oder eine gute Lüge ins Feld geführt haben. Da nimmt die Putzfrau mit einer Bürste aus Ziegenhaar endlich das Leben in die eigenen Hände. Ein Jurist bescheisst im Memory, um gegen seinen achtjährigen Sohn zu gewinnen. Und der deutsch-bosnische Schriftsteller – wohl das alter ego des Autors – reist zum ersten Mal nach Helgoland und stellt fest, dass er dort schon einmal gewesen ist.

Die Kernaussage von «Möchte die Witwe …» lässt sich mit der Fantasie von vier Freunden – Deutschen mit einem Migrationshintergrund und einer «Kackzukunft» - so zusammenfassen: «Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? … Kostenpunkt: hundertdreissig Mark. Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du es direkt einloggen und dich gleich darauf freuen, weil diese zehn Minuten werden hundertpro irgendwann kommen. Das Einloggen kostet hundertdreissigtausend Mark.»

Humorvoll und hintergründig geschrieben und rasch weggelesen. Ein zweites Mal verlangt es mich allerdings nicht danach.

Der Hund, der nur Englisch sprach. Von Linus Reichlin.

Felix Sell, der Protagonist in Linus Reichlins neuem Roman, findet beim Aufräumen seiner Plattensammlung eine Dosis LSD unbekannten Verfalldatums und testet kurz entschlossen die Probe auf ihre Wirksamkeit. In der Folge erweitert sich sein Bewusstsein nicht nur um die von früher vertrauten Farberscheinungen, sondern auch um einen Hund. Der klopft an seine Tür und verlangt auf Englisch Zuflucht und Schutz vor unfreundlichen Verfolgern. Im Gegensatz zu früheren Trips will dieser jedoch nicht enden: Mann und Tier geraten auf der Flucht vor ihren Hundejägern in immer unmöglichere und unglaublichere Situationen.

Von der überbordenden Fantasie des Schweizer Autors und Kolumnisten Reichlin habe ich schon in früheren Rezensionen geschwärmt (https://www.buechercheck.com/2021/03/04/senor-herreras-bluehende-intuition-von-linus-reichlin/). Die köstliche Story um den sprachgewandten Vierbeiner, der seinem Herrchen wider Willen anfangs nur lästig ist, ihm aber im Verlauf einer turbulenten Agentenstory immer mehr ans Herz wächst, schlägt meiner Ansicht nach (fast) alles, was dem Wahlberliner Reichlin je an erheiternd Abstrusem aus der Feder respektive der Computertastatur geflossen ist. Und nicht nur der Plot ist vom Feinsten; der begnadete Lakoniker zeichnet auch seine Charaktere in der wirklichen wie der phantastischen Welt wieder aufs Köstlichste. Dass der Junggeselle wider Willen Felix Sell sein kärgliches Leben als nächtlicher Auftragsvergifter von störenden Bäumen fristet, ist nur eine von unzähligen Pointen auf diesen höchst amüsanten 320 Seiten.

Die Auflösung des Rätsels um den offenbar kostbaren und deshalb von Vielen gejagte  sprechende Hund will ich hier nicht verraten. Nicht zuletzt deshalb, weil es – wie so oft bei Reichlin gar keine gibt. So lässt er bis zur letzten Seite offen, ob der anfängliche Trip im Verlauf des Buchs in eine wenn auch fantastische Wirklichkeit übergegangen ist oder doch nur eine monströse Halluzination war.  Finden Sie’s raus, Sie werden sich köstlich amüsieren!

Loreley. Von Andreas Stichmann.

Zum ersten Mal habe ich vor zwei Jahren etwas von Andreas Stichmann gelesen. Die ebenso aparte wie kurze Love Story «Eine Liebe in Pjöngjang» hatte mir in ihrer nüchternen Zurückhaltung gut gefallen, und als es mir neulich mal wieder um Kurzgeschichten war, griff ich deshalb zum aktuellen Werk des 41-jährigen Deutschen. «Loreley» ist eine Sammlung von acht Geschichten von «Sehnsucht, Zauber und Gefährdung», wie es die Verlagsmitteilung formuliert. Sie haben alle irgendwie mit dem Rhein und wenige auch mit dem Fels bei St. Goarshausen zu tun.

Stichmann ist kein typischer Deutscher insofern, dass zurückhaltend und bescheiden daherkommt, was er uns zu sagen hat. Auch in seinem neuen Buch entführt er uns auf leisen Sohlen auf verschiedene Sets – von der Ausreisserin, die beim Zelten in der eigenen Stadt eine rätselhafte Bekanntschaft macht bis zur Witwe, die sich im vorgerückten Alter noch den Lebenstraum von einem eigenen Motel erfüllt. Da wird keiner vom Hocker gerissen, da sträuben sich einem keine Haare, da knirscht niemand mit den Zähnen, und ehe man es sich versieht, die sind die acht Miniaturen weggelesen.

Wer allerdings aufgrund des Titels damit gerechnet hat, bei dieser Lektüre mehr über die Heldin des Heine-Gedichts «Die Lore-Ley» zu erfahren oder den roten Rheinfaden aufzuspüren versucht, wird bei Stichmann nicht auf seine Rechnung kommen. Die darauf verwendete Lesezeit ist nicht direkt verloren, aber die Wirkung der vor sich hin plätschernden Diskretprosa ist nichts für die Ewigkeit.

Das zeigt auch meine eigene Erfahrung. Als ich für eine weitere Folge von Beiträgen für diesen Blog einige Wochen nach der Lektüre die Cover der gelesenen Bücher checkte, wollte mir bei «Loreley» partout nicht mehr einfallen, worum es da gegangen war und ich musste mich nochmals kurz in die ersten Seiten einlesen

Zuleika. Von Bernadine Evaristo.

Wer im Gymnasium acht Schuljahre lang mit je sieben Wochenstunden Latein traktiert worden ist, fragt sich ja später oft, wozu diese endlose Übung gut gewesen sein könnte. Seit die anbetungswürdige Bernadine Evaristo («Mädchen, Frau etc.», «Mr. Loverman») mit ihrem neuen Roman «Zuleika» die Beststellerlisten stürmt, profitieren aber die Lateiner unter ihrer Leserschaft unerwartet von einem Payback auf die damaligen Mühen. Elegant streut die 65-jährige britische Erfolgsautorin und Professorin für Kreatives Schreiben nämlich immer wieder – und unübersetzt! – lateinische Vokabeln und Redensarten in die Erzählung, deren Bedeutung sich nur studierten Altphilologen erschliesst.    

Die Geschichte spielt in Londinium und Eboracum am normannischen Rand des grossrömischen Reichs, wobei Evaristo die aktuellen Orts- und Quartiernamen von London und York verwendet. Dort lebt ihre Heldin Zuleika als Kind nubischer Einwanderer und macht jene Erfahrungen, die ihre schwarzen Geschlechtsgenossinnen heute noch in der Alten Welt machen. Sie wird mit einem dicken alten römischen Funktionär verheiratet, der sie die längste Zeit des Jahres im nasskalten England allein lässt, während er sich auf «Dienstreise» mit Gespielinnen im warmen Süden des Reichs vergnügt.

In seiner Abwesenheit weckt die glutäugige Schöne die Aufmerksamkeit des syrischstämmigen - und somit seelenverwandten - römischen Kaisers Septimius Severus (146 – 211 n. Chr.), der auf die britischen Inseln gekommen ist, um die Provinz gegen die Normannen zu verteidigen. Das Ende einer kurzen, für Zuleika jedoch grossen Liebe ist unausweichlich: Ihr Ehemann erfährt vom Seitensprung seiner Frau und rächt sich auf grausame Weise für ihre Untreue.

Evaristo variiert in diesem Buch auf höchstem Niveau das Cliché von der schwarzen Schönen von niederem Stand, die es ins Establishment schafft, aber schliesslich an den Flammen einer für sie unerreichbaren Passion verglüht. Und wie immer tut sie es so, dass man das Buch – inklusive lateinische Einsprengsel – in einem Zug durchliest. Divinus libellum est!

Altern. Von Elke Heidenreich.

Dass das neue Buch über das Altern von Elke Heidenreich schon in der ersten Woche nach seinem Erscheinen 100'000 Mal verkauft worden sei, bezweifelte ich als erklärter Fan der Autorin und ihres bisherigen Werkkatalogs keinen Moment. Zusätzlich angefixt wurde ich von den Interviews, in welcher die 81-jährige Journalistin und Moderatorin wortreich jene Themen vertiefte, die mich als «Boomer» zunehmend etwas angehen. Trotz dieser eigentlich idealen Voraussetzungen habe ich das Bändlein enttäuscht zur Seite gelegt.

Von den knapp 110 Seiten ist ein beträchtlicher Teil nämlich gar nicht «O-Ton Heidenreich». Vielmehr hat die belesene und umfassend gebildete Frau fleissig Zitate aus aller Welt, allen Zeiten und allen Zivilisationen zu ihrem Thema gesammelt. Durch dieses Sammelsurium meist bekannter (Binsen-)Wahrheiten moderiert sie mit autobiographischen Elementen, persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen einer vom Altern direkt Betroffenen. Dabei ist sie grosszügig mit Ratschlägen, die darauf hinauslaufen, dass selber schuld ist, wer das Alter nicht als die beste Zeit seines irdischen Wandelns erlebt wie sie.

Im Glückstaumel angesichts sich mehrender Jahrringe vergisst Heidenreich immerhin nicht, dass sie zu den in jeder Hinsicht privilegierten Alten gehört. Hie und da relativiert sie deshalb ihre Lobeshymnen durch einsilbige Einsprengsel wie «Im Alter kein Geld zu haben, ist allerdings nicht lustig …» und ähnlichen Relativierungen, ohne allerdings die daraus resultierende Unlustigkeit näher auszuführen geschweige denn mit konkreten Tipps Hilfestellungen für die vielen weniger glücklichen und gesunden Seniorinnen und Senioren anzubieten.

Fazit: Elke Heidenreich holt sich bei den grossen Literaten und Philosophen die Bestätigung ihrer positiven Wahrnehmung des Alters und moderiert mit dem Tunnelblick auf die eigene Begeisterung flapsig durch diese Zitatensammlung. Nicht ihr Niveau, schade.   

Kairos. Von Jenny Erpenbeck.

Seit die 57-jährige deutsche Schriftstellerin Jenny Erpenbeck im März 2024 für die englische Übersetzung ihres Romans «Kairos» den prestigeträchtigen Booker Prize erhalten hat, ist die deutschsprachige Literaturkritik völlig aus dem Häuschen. Dass die Lokalmatadorin damit auch für den Deutschen Buchpreis gesetzt sein muss, ist für die meisten Rezensierenden des 390-seitigen Opus damit klar wie Klossbrühe.

Die  im Ostberlin der grauen DDR-Jahre geborene und aufgewachsene Autorin mixt in ihrer Erzählung zwei todsichere Erfolgsrezepte. Einerseits arbeitet sie in allen Details die Liebesgeschichte einer 19-jährigen Studentin und eines um 34 Jahre älteren Radioredaktors und Schriftstellers auf, die irgendwann ins Betrügen, Beschatten, Belauern und Bedauern kippt. Und blendet auf einer zweiten Schiene zurück in die Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, die auf deutsche Autorinnen und Autoren der Gegenwart eine ungebrochene Faszination auszuüben scheint. Manchmal scheint mir, dass beim einen oder anderen der retrospektive Seufzer «Alles war ja damals auch nicht schlecht» vieler «Ossies» durchdrückt ...

Also: Nichts Neues im Osten. Und auch die Story der «Amour Fou» von Katharina und Hans weckt von der ersten Seite an Erinnerungen an «Lolita», nur dass Erpenbeck das Hin und Her der ungleichen Lover uninspirierter und langfädiger auswalzt als Nabokov. Ihre Sprache ist mehr Spreewaldgurken und Rotkäppchensekt als feurige Erotik und fesselnde Regimeanalyse. Das hochgehypte Buch hat mich über weite Lesestrecken gelangweilt. Ich habe es nicht zu Ende gelesen.

Wenn du erzählst, erblüht die Wüste. Von Rafik Shami.

Der 1946 geborene Rafik Shami ist ein begnadeter Erzähler. Seine Romane in der orientalischen Tradition des Geschichtenerzählers haben dem Syrer, der erst 25-jährig nach Deutschland kam und die Sprache Goethes erst erlernen musste, den Ruf als einen der besten deutschen Schriftsteller eingetragen. Wer sein 2008 erschienenes Opus Maximum «Die Geschichte des Kalligraphen» verschlungen hat, wird dieses schmeichelhafte Ranking ohne Zögern unterschreiben.

In seinem neuesten Werk spielt Shami alle Facetten seines Talents aus. In «Wenn du erzählst, erblüht die Wüste» geht es vordergründig um den Herrscher eines arabischen Landes im 19. Jahrhundert, dessen einzige Tochter nach dem Tod ihrer Mutter in Depressionen verfallen ist. Davon erfährt der Kaffeehauserzähler Karam und versammelt allabendlich erzählfreudige Bürgerinnen und Bürger der Stadt im Palast, um die junge Frau durch Geschichten ins Leben zurückzuholen. In diese Rahmenhandlung verschachtelt sind die Episoden, die von Mut und Feigheit, von Freundschaft und Feindschaft, von der Liebe und der Weisheit des Herzens erzählen.

Bei dieser Übungsanlage liegt die Vermutung nahe, dass Shami sich dabei vom Klassiker «Tausend und eine Nacht» hat inspirieren lassen. Und so sollte man meiner Meinung nach die knapp 500 Seiten auch angehen: Jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Geschichten und dann zurück mit dem Pocket- oder Print-Buch auf den Nachttisch. Zu «Binge Reading» verführt einen das Konzept auf jeden Fall nicht, weisen doch Form und Inhalt des Buches eine so enge Bandbreite auf, dass einen die pausenlose Abfolge ähnlicher Stories mit der Zeit eher ermüdet als fesselt.

Allmen und Herr Weynfeldt. Von Martin Suter

Da entdeckt man eines Ferienvormittags auf einem Bummel durch Scuol die «Buchhandlung des Jahres 2023» und sieht beim ausgiebigen Herumstöbern in dieser kleinen, feinen und vielseitigen «Libreria Poesia Clozza» von Simone Nuber auf dem Neuheitentisch das Büchlein «Allmen und Herr Weynfeldt» liegen. Ab damit an die Kasse, auf dem Absatz kehrtgemacht und in der Bar des Hotels Belvèdere bei einem Negroni die 225 kleinformatigen Seiten in weniger als drei Stunden weggelesen - so funktioniert Suter für Fans ...

Im neuen «Allmen» bekommt es der mal wieder klamme Kunstdetektiv von Stand mit seinen Bediensteten und Geschäftspartnern Carlos und Maria mit einer anderen Figur aus Suters Romanpersonal zu tun: Adrian Weynfeldt. Diesem kunstsinnigen Monsieur fehlt nach einem Empfang bei sich zu Hause ein kostbares Lieblingsbild; Allmen soll mit seinem Team die Täterschaft ausfindig machen und den mutmasslichen Picasso wieder beibringen. Unter Verdacht stehen Weynfeldts Haushälterin, deren Enkel sowie die meisten der skurrilen Partygäste.

In der Charakterisierung solcher Figuren wie auch in der authentischen Beschreibung der Schauplätze und der Rituale der dortigen Akteure (köstlich etwa die Schilderung der Treffen von Weynfeldt und Allmen in der nobelsten Bar Zürichs) ist Martin Suter bekanntlich Meister, wie wir spätestens seit seinen «Business Class»- und «Geri Weibel»-Kolumnen wissen. Ich fand sie im neuen Allmen gar noch lustiger als in früheren Werken des 75-jährigen ehemaligen Werbers.

Und wie immer bringt es der Autor auch diesmal wieder fertig, den Fall erst auf den allerletzten Seiten aufzulösen und «Allmen International Inquiries» das standesgemäss schwindelerregende Honorar einstecken zu lassen.

Service. Von Sarah Gilmartin.

«Service» ist der erste Roman der Dubliner Autorin und Journalistin Sarah Gilmartin, der in deutscher Übersetzung auf den Markt gekommen ist. Die schüchterne Hannah flüchtet sich vor ihren eigenen Unsicherheiten in die Arbeit als Kellnerin in einem Dubliner Nobelrestaurant und stösst dort als Anfängerin öfters an ihre Grenzen. Anders als ihre Kolleginnen steht sie jedoch bald in der besonderen Gunst ihres charismatischen Chefs, der bei ihren Missgeschicken häufiger ein Auge zudrückt als bei anderen Angestellten. Schliesslich kommt er ihr bei einem feuchtfröhlichen Teamevent definitiv zu nahe und Hannah verlässt die Stelle voller Frust und Scham, aber ohne den Übergriff anzuzeigen.  

Als dieser Daniel Costello jedoch später von einer früheren Kellnerkollegin eines solchen #MeToo-Vergehens angeklagt wird, bittet diese Mel Hannah, als Zeugin gegen ihren ehemaligen Chef aufzutreten. Weil sie das ablehnt, wird er freigesprochen und plant, rehabiliert, bereits die Wiedereröffnung seines Lokals. Da entscheidet sich Hannah nach Intervention einer anderen Kollegin aus der Restaurant T-Zeit um, worauf ein anderes Gericht Costello verurteilt und sein Schicksal definitiv besiegelt. Der Star verliert damit nicht nur seinen Ruf, sein Geschäft und seine gesamte Existenz, sondern auch seine Familie.

Gilmartin erzählt die harmlos beginnende und gekonnt eskalierte Geschichte aus den jeweiligen Perspektiven von Hannah, Costello und dessen Frau Julie. Ihre Stärke liegt in der Authentizität und den fein ausgearbeiteten Charakteren der unsicheren jungen Kellnerin, des selbstsicheren, grossspurigen Machos und der solidarischen Ehefrau, die bis zum Freispruch eisern zu ihrem Mann hält und ihn erst, als mit Hannahs Anklage auch ihre heile Welt zusammenbricht, von einem Tag auf den anderen verlässt.

«Service» ist toll geschrieben und liest sich entsprechend leicht, schnell und lustvoll. Tagesempfehlung!

Yoga Town. Von Daniel Speck.

Von Daniel Specks Familienroman «Jaffa Road» war ich sehr angetan und ich hatte mich im Büchercheck auch entsprechend geäussert (https://www.buechercheck.com/2021/07/05/jaffa-road-von-daniel-speck). Nach der Lektüre von «Yoga Town» desselben Autors hält sich meine Begeisterung in engeren Grenzen. Nicht nur hat die Story weniger Potenzial als «Jaffa Road»; der Autor erzählt sie auch lange nicht so fesselnd wie diejenige der toxischen «Dreiecksbeziehung» zwischen Juden, Palästinenser und Nazideutschen.

Im neuen Speck fährt also die Berliner Yogalehrerin Lucy nach Indien. Begleitet von ihrem störrischen Vater Lou will sie herausfinden, wie, wo und woran ihre Mutter, die sie nie gekannt hat, auf dem «Hippietrail» der 68er-«Flower Power»-Generation gestorben ist. Die Roadstory dieser aktuellen Spurensuche wechselt ab mit Rückblenden auf einen chaotischen Trip, auf dem ihr Vater Lou mit seinem Bruder und zwei Frauen 1968 in einem alten VW-Bus an den Fuss des Himalayas getrampt sind. Dort verbrachten sie «die beste Zeit ihres Lebens» im Ashram des Yogi Maharishi Mahesh, wo sie auf dessen prominente Anhänger wie die angeblich vom Guru sexuell belästigte Mia Farrow oder die Beatles trafen. Nach turbulenten Wochen in der "Yoga Town" Rishikesh mit vielen Gefühlstürmen kehrten sie ohne Lous Bruder und Partnerin zurück nach Europa. Lucy findet schliesslich heraus, was mit ihrer Mutter damals geschah.

Gemäss Klappentext geht es in «Yoga Town» um «eine grosse Liebes- und Familiengeschichte». Fast wörtlich stand das schon auf dem Buchrücken von «Jaffa Road». Aber wer jene über 1000 Seiten im Schnellzugstempo umgeblättert hat, kämpft schon über der halb so langen, aber doppelt so clichéreichen Schilderung des wirren Geschehens in der Yogastadt oft mit Ermüdungserscheinungen. «Ein Generationenroman über Musik, grosse Träume und die Suche nach dem verlorenen Zauber» verspricht die Klappe weiter. Ist mit «Zauber» die Brillanz von «Jaffa Road» gemeint, sogar zu Recht: Die ist bei «Yoga Town» verloren gegangen.