Hotel Paraíso. Von Arezu Weitholz.

Dieses Buch lud ich herunter, weil ich es auf seine Eignung als Geschenk für einen Freund prüfen wollte, der zur Zeit ein Haus an der Algarve baut. Im Waschzettel des Verlags von «Hotel Paraíso» hatte ich gelesen, jenes stünde an eben dieser Küste im Süden Portugals und erhoffte mir davon entsprechendes Lokalkolorit. Mit fortschreitender Lektüre stellte sich dann aber heraus, dass die Landschaft im Roman der 56-jährigen deutschen Journalistin Arezu Weitholz eine vernachlässigbare Rolle spielt.

Alleiniger Mittelpunkt der Story ist nämlich die Synchronsprecherin Frieda, die eines Tages mitten in der Arbeit die Stimme verliert. Als Ausweg aus diesem Burn-out zieht sie sich in die besagte Algarve zurück und hütet dort ein im Winter geschlossenes Hotel mitsamt dem dazugehörigen Hund Otto. Während sie im festgelegten Wechsel Tag für Tag die Zimmer lüftet und einsame Hundespaziergänge am menschenleeren Atlantikstrand unternimmt, hat sie mehr als genug Zeit, sich mit Existentiellem im Allgemeinen und ihrer Vergangenheit im Besonderen auseinanderzusetzen.

Ausgangspunkt dieser mäandernden Gedankenströme ist die Tankstelle in einem niedersächsischen Dorf, wo sie eine vordergründig harmonische Kindheit verbrachte. Erst als Heranwachsende in der Schule, unter Freunden und zuletzt in der eigenen Familie verdichtete sich der Eindruck, dass sie nicht dazu gehörte. Mehr Handlung als diese Innenschau zum Thema Fremdsein ist nicht in dieser minimalistisch angelegten Prosa, die die Verfasserin immerhin hie und da mit etwas Poesie überpudert - etwa, wenn sie den Kühlschrank als «Silberrücken» bezeichnet oder mit dem patroullierende Sicherheitsmann, der sich nächtens daraus bedient und Zettel hinterlässt, Gedichte austauscht.

«Ein schönes Buch, das um Themen wie Heimat kreist, sich jedoch einfachen Antworten verweigert», meinte die Kritikerin vom Deutschlandfunk. So gesehen könnte ich es auch nicht gelesen haben.

Ein schönes Ausländerkind. Von Toxische Pommes.

Zu den erheiterndsten Leseerlebnissen in der NZZ am Sonntag der letzten Jahre gehörte die Fortsetzungsgeschichte über den italienischen Vater und die Schweizer Mutter von Olivia El Sayed. Auf höchst amüsante Weise hat die Zürcher Spoken-word-Künstlerin und Kabarettistin aus Winterthur die geschiedene Mischehe ihrer Eltern im Programm «flowery wordis» und dem daraus entstandenen Buch «Scheidungskinderclub»  geschildert und damit vor allem ihrem exzentrischen Papa ein ebenso liebevolles wie sarkastisches Denkmal gesetzt.   

Dasselbe hat auch eine österreichische Satirikerin mit kroatischem Migrationshintergrund versucht, deren Künstlerinnenname das Originellste an der Abrechnung mit dem eigenen Erzeuger ist. «Toxische Pommes», die in Wirklichkeit Irina heisst und laut Wikipedia keinen Nachnamen hat, emigrierte als kleines Mädchen mit ihren Eltern aus ex-Jugoslawien nach Wiener Neustadt. In diesem gesichtslosen Industrieviertel weitab der österreichischen Hauptstadt legen sie und ihre Mutter eine mustergültige Integrationskarriere als Musterschülerin und Meisterschwimmerin respektive Pharmazeutin hin, während der desillusionierte Vater es trotz seines Ingenierstudiums nicht über den frustrierenden Status eines des Deutschen nicht mächtigen Hausmanns mit Putzfimmel und anderen Macken hinaus schafft.

Diese Konstellation, die anfänglich von der Untermiete bei einer übergriffigen Vermieterin und danach dem familiären Zusammenleben in einer engen Mietwohnung zusätzlich belastet wird, führt zu dauernden Reibungen vor allem zwischen Vater und Tochter (die jener hartnäckig als «Söhnchen» bezeichnet). Über 200 Seiten arbeitet sich Pommes an den Charakterschwächen und Macken ihres hassgeliebten Erzeugers ab. Dass sie dafür ausgiebig slawische Sätze und Redewendungen verwendet, zu denen sie die deutsche Übersetzung mitliefert, täuscht nicht über die sprachliche Einfallslosigkeit und das ewige Wiederkäuen von Frust und Enttäuschung hinweg, welche die Ich-Erzählerin auf dem Weg zum schliesslich erstrittenen österreichischen Bürgerbrief – und dem gefühlten Verlust des Vaters – heimsuchen. Büchercheck-Befund: Ansprechend, aber kein Vergleich mit El Sayed!

Nach oben sinken.Von Wilfried Meichtry.

Wer von der Generation Boomer den Eindruck hat, seine Jugend sei in beengender Weise von Zwängen einer verknöcherten Gesellschaft überschattet gewesen, sollte «Nach oben sinken» von Wilfried Meichtry lesen. In seinem halbautobiografischen Roman schildert der 68-jährige Schweizer Historiker, Schriftsteller und Drehbuchautor das Aufwachsen eines Knaben in der Enge des Kantons Wallis der 1970er Jahre. Und derart beklemmend wie hier sind Kinder- und Jugendjahre wohl für die wenigsten 68-er gewesen ...

Vor allem die katholische Kirche und ihre lokalen Repräsentanten setzen in dieser Geschichte die Leitplanken für das Tun und Lassen der Bevölkerung. Aus heutiger Sicht mutet es unwirklich an, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Menschen damals den moralischen Imperativen aus Rom unterwarfen und wie willig und unhinterfragt sie den Geboten folgten, die ihnen ein windiges Dorfpfäfflein ex cathedra wie auch hinten herum diktierte.  

Dieser Mief bremst den namenlosen Ich-Erzähler vorerst in seinem Fortkommen. Der talentierte Heranwachsende scheitert im Gymnasium, als Arbeiter in der Aluminiumfabrik Chippis (die damals mit stillschweigender Unterstützung der Regierung mit ihren ungefilterten Abgasen das ganze Tal vergiftete) und als Schafhirte. Sein Verhältnis zu den wortkargen Eltern und der stockkatholischen Grossfamilie ist entsprechend gespannt, und es verbessert sich durch seine hartnäckigen Nachforschungen nach dem Verbleib eines unter mysteriösen Umständen verschollenen Grossonkels auch nicht gerade.

Bis mir eine «Büchercheck»-Leserin den neuen Meichtry empfohlen hat, kannte ich den Autor aus Leuk-Susten, der heute in Burgdorf lebt, nicht. Nach der anregenden und immer wieder auch auf wohltuende Weise humoristisch erheiternden Lektüre von «Nach oben sinken» werde ich mir aber demnächst weitere Werke des Vielbegabten vornehmen. Warme Empfehlung!  

James. Von Percival Everett.

Nachdem mir Percival Everetts Roman «Erschütterung» gut gefallen hatte (https://www.buechercheck.com/2022/05/02/erschuetterung-von-percival-everett) griff ich mit hohen Erwartungen zum neuen Roman des 68-jährigen US-Schriftstellers. In «James» erzählt der Literaturprofessor die «Abenteuer des Huckleberry Finn» von Mark Twain aus der Perspektive des schwarzen Sklaven Jim. Dieser heisst nun James, und sein Auftreten als unterwürfiger Leibeigener samt infantil-debil-radebrechender Sprache ist nur geschickte Tarnung, um den Vorstellungen der weissen Herrenrasse zu entsprechen. In Wirklichkeit kennt James die Voltaire’sche Forderung nach der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, schreibt in unbeobachteten Momenten seine Lebensgeschichte und spricht mit seinesgleichen – also mit anderen Sklaven – in ganz normaler Standardsprache.

Als dieser James von seiner Familie weg in einen anderen Landesteil verkauft werden soll, ergreift er zusammen mit Huckleberry die Flucht. Auf ihrer gefahrvollen Reise entlang des Missisippi geraten die beiden Vogelfreien in eine gefährliche Situation nach der anderen. Wie das literarische Gegenstück von Twain handelt auch «James» von Menschen und Orten an den Ufern des «Ol’ Man River» und eröffnet beklemmende Einblicke in Rassismus und Sklaverei, die Mitte des 19. Jahrhundert vor allem im Süden der USA noch fest verwurzelt waren und schliesslich zum Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten führten.

Der Roman ist trotz gelegentlicher philosophischer Exkurse über Freiheit und Gleichheit durchwegs spannend. In der deutschen Version wird das Lesevergnügen von der Umsetzung der Sklavensprache etwas getrübt. Die verschliffene Mischung zwischen Cockney, Berlinerisch und Rapperslang, in der sie Übersetzer Nikolaus Stingl wiedergibt, wirkt in der permanenten Wiederholung als Stolperstein. Aber abgesehen davon ist «James» ein grossartig aufgefrischtes Zeitdokument und funktioniert, auch wenn man das Original von Mark Twain nicht gelesen hat. Zum besseren Verständnis von «James» dient es aber allemal.  

22 Bahnen. Von Caroline Wahl.

Und wieder einmal bin ich auf die Expertenrunde des Literaturclubs des eidgenössischen Farbfernsehens Beromünster hereingefallen. Vor ein paar Monaten pries diese das neue Buch von Caroline Wahl mit dem Titel «Windstärke 17» in den höchsten Tönen. Immer gewillt und bereit, auch die überübernächste  Kreativgeneration kennen zu lernen und deren Schaffen zu würdigen, lud ich mir erst einmal das ebenso hochgelobte Debüt der 29-jährigen Heidelbergerin auf den Reader.  

Der Titel «22 Bahnen» bezieht sich auf die Strecke, welche die Protagonistin jeweils im Gartenbad der öden Kleinstadt zurücklegt, in welcher sie mit einer kleinen Schwester und ihrer alkoholsüchtigen Mutter lebt. Der tägliche Schwumm ist die Konstante in ihrem stressigen Alltag zwischen Studium, Job an der Supermarktkasse, Betreuung der Schwester und Chaosmanagement der dauerbetrunkenen Mutter. Und – unausweichlich bei derartigen Jungfrauenplots - der Ort, an dem sie mit einem vorerst unerreichbar erscheinenden Mitschwimmer anbandelt. Diese tüchtige Tilda wird kurz vor dem Masterabschluss für eine attraktive Stelle in Berlin empfohlen und muss sich nun neben vielen anderen Fragen auch der alles entscheidenden stellen, ob sie es verantworten kann, die Schwester mit der alkoholsüchtigen Mutter allein zu lassen.

Weshalb nun aber «hereingefallen»? Nun, das Buch, das eine wohlwollende Kritik auch ausserhalb der SRF-Literatursendung als «gelungenen Coming-out»-Roman würdigt, ist mir eher vorgekommen wie ein gelungener Maturaufsatz in einfacher Sprache. Weit und breit keine Spur von Spannung und Dynamik, wenig Formulierungsvermögen, null stilistische Rafinesse. Ein Befund, der sich mir in den letzten Monaten immer wieder bei hochgehypten deutschen Jungautorinnen aufgedrängt hat. «Windstärke 17» kommt bei mir jedenfalls nicht auf die Leseliste.  

Sobald wir angekommen sind. Von Micha Lewinsky.

Auch ein Büchercheck darf einmal mit einer Platitüde beginnen. «Wie der Vater, so der Sohn» denkt der Verehrer des Zürcher Tausendsassas Charles Lewinsky, wenn er sich auf den neuesten Roman dessen Sprösslings Micha einlässt. Derselbe trockene Humor, eine ähnlich ausgeprägte Gabe zur Beobachtung und Schilderung alltäglicher Freuden und Peinlichkeiten in einer nicht besonders religiösen jüdischen Durchschnittsfamilie, vergleichbare Sicherheit beim Setzen mehr oder weniger überraschender Pointen: Vieles kommt einem vertraut vor, ohne dass dem Junior das Werk zu einem reinen Imitat väterlichen Schaffens geriete.

«Sobald wir angekommen sind» handelt von der überstürzten Flucht des Zürcher Juden Ben Oppenheim vor dem Atomkrieg, auf den er sich seit Jahren innerlich vorbereitet und den er mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine unmittelbar bevorstehen sieht. Mit seiner von ihm getrennt lebenden Gattin und den beiden Kindern fliegt der erfolglose Schriftsteller und wenig beschäftigte Drehbuchautor Hals über Kopf nach Brasilien. Zwar lässt der Nuklearangriff auf sich warten, dafür nähern sich Ben aber und seine Frau einander auf eine Weise wieder an, die lange nach einem Neubeginn der ehelichen Gemeinschaft aussieht. Wäre da nur nicht die in der Schweiz gebliebene Geliebte, die den ewigen Zauderer immer wieder zwischen der Geborgenheit in der Familie und der Sehnsucht nach sexueller Erfüllung hin- und herschwanken lässt.

Nach 290 Seiten bestens unterhaltendem Hin und Her zwischen Liebe und Sex, Vernunft und Sehnsucht, Ratio und Emotionen, Wunschträumen und Finanzproblemen mündet die Geschichte ins vorhersehbare Finale: Der Atomangriff ist abgesagt und die vernünftige Gattin organisiert den Rückflug und das Geld dafür. Ben aber macht Stunden vor dem Abflug endlich den Besuch in Petropolis, wohin sein ebenfalls nach Brasilien ausgewandertes Idol Stefan Zweig damals ausgewandert ist. Und kehrt von dort enttäuscht und ernüchtert, aber letztlich mit seinem Schicksal versöhnt in den europäischen Alltag zurück. Ein grosses Lesevergnügen!

Wenn die Witwe ... Von Saŝa Staniŝić.

Von den durchschnittlich 2'000 Zeichen (inklusive Leerschläge) eines durchschnittlichen Buchchecks auf diesem Blog verbraucht der Titel des neuesten Werks von Saŝa Staniŝić bereits über 100: «Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne» überschreibt der 46-jährige deutsch-bosnische Schriftsteller seine Storys über Entscheidungen. Und fragt in unterschiedlichen Fällen und Ausgangslagen, was gewesen wäre oder einträte, wenn man sich anders entschieden hätte als man es getan hat.

In kurzen, übersichtlichen Episoden macht uns Staniŝić mit Menschen bekannt, die vor solchen Entscheidungen stehen. Die eine unübliche Wahl getroffen haben, den schwierigeren Weg gegangen sind oder eine gute Lüge ins Feld geführt haben. Da nimmt die Putzfrau mit einer Bürste aus Ziegenhaar endlich das Leben in die eigenen Hände. Ein Jurist bescheisst im Memory, um gegen seinen achtjährigen Sohn zu gewinnen. Und der deutsch-bosnische Schriftsteller – wohl das alter ego des Autors – reist zum ersten Mal nach Helgoland und stellt fest, dass er dort schon einmal gewesen ist.

Die Kernaussage von «Möchte die Witwe …» lässt sich mit der Fantasie von vier Freunden – Deutschen mit einem Migrationshintergrund und einer «Kackzukunft» - so zusammenfassen: «Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? … Kostenpunkt: hundertdreissig Mark. Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du es direkt einloggen und dich gleich darauf freuen, weil diese zehn Minuten werden hundertpro irgendwann kommen. Das Einloggen kostet hundertdreissigtausend Mark.»

Humorvoll und hintergründig geschrieben und rasch weggelesen. Ein zweites Mal verlangt es mich allerdings nicht danach.

Der Hund, der nur Englisch sprach. Von Linus Reichlin.

Felix Sell, der Protagonist in Linus Reichlins neuem Roman, findet beim Aufräumen seiner Plattensammlung eine Dosis LSD unbekannten Verfalldatums und testet kurz entschlossen die Probe auf ihre Wirksamkeit. In der Folge erweitert sich sein Bewusstsein nicht nur um die von früher vertrauten Farberscheinungen, sondern auch um einen Hund. Der klopft an seine Tür und verlangt auf Englisch Zuflucht und Schutz vor unfreundlichen Verfolgern. Im Gegensatz zu früheren Trips will dieser jedoch nicht enden: Mann und Tier geraten auf der Flucht vor ihren Hundejägern in immer unmöglichere und unglaublichere Situationen.

Von der überbordenden Fantasie des Schweizer Autors und Kolumnisten Reichlin habe ich schon in früheren Rezensionen geschwärmt (https://www.buechercheck.com/2021/03/04/senor-herreras-bluehende-intuition-von-linus-reichlin/). Die köstliche Story um den sprachgewandten Vierbeiner, der seinem Herrchen wider Willen anfangs nur lästig ist, ihm aber im Verlauf einer turbulenten Agentenstory immer mehr ans Herz wächst, schlägt meiner Ansicht nach (fast) alles, was dem Wahlberliner Reichlin je an erheiternd Abstrusem aus der Feder respektive der Computertastatur geflossen ist. Und nicht nur der Plot ist vom Feinsten; der begnadete Lakoniker zeichnet auch seine Charaktere in der wirklichen wie der phantastischen Welt wieder aufs Köstlichste. Dass der Junggeselle wider Willen Felix Sell sein kärgliches Leben als nächtlicher Auftragsvergifter von störenden Bäumen fristet, ist nur eine von unzähligen Pointen auf diesen höchst amüsanten 320 Seiten.

Die Auflösung des Rätsels um den offenbar kostbaren und deshalb von Vielen gejagte  sprechende Hund will ich hier nicht verraten. Nicht zuletzt deshalb, weil es – wie so oft bei Reichlin gar keine gibt. So lässt er bis zur letzten Seite offen, ob der anfängliche Trip im Verlauf des Buchs in eine wenn auch fantastische Wirklichkeit übergegangen ist oder doch nur eine monströse Halluzination war.  Finden Sie’s raus, Sie werden sich köstlich amüsieren!

Loreley. Von Andreas Stichmann.

Zum ersten Mal habe ich vor zwei Jahren etwas von Andreas Stichmann gelesen. Die ebenso aparte wie kurze Love Story «Eine Liebe in Pjöngjang» hatte mir in ihrer nüchternen Zurückhaltung gut gefallen, und als es mir neulich mal wieder um Kurzgeschichten war, griff ich deshalb zum aktuellen Werk des 41-jährigen Deutschen. «Loreley» ist eine Sammlung von acht Geschichten von «Sehnsucht, Zauber und Gefährdung», wie es die Verlagsmitteilung formuliert. Sie haben alle irgendwie mit dem Rhein und wenige auch mit dem Fels bei St. Goarshausen zu tun.

Stichmann ist kein typischer Deutscher insofern, dass zurückhaltend und bescheiden daherkommt, was er uns zu sagen hat. Auch in seinem neuen Buch entführt er uns auf leisen Sohlen auf verschiedene Sets – von der Ausreisserin, die beim Zelten in der eigenen Stadt eine rätselhafte Bekanntschaft macht bis zur Witwe, die sich im vorgerückten Alter noch den Lebenstraum von einem eigenen Motel erfüllt. Da wird keiner vom Hocker gerissen, da sträuben sich einem keine Haare, da knirscht niemand mit den Zähnen, und ehe man es sich versieht, die sind die acht Miniaturen weggelesen.

Wer allerdings aufgrund des Titels damit gerechnet hat, bei dieser Lektüre mehr über die Heldin des Heine-Gedichts «Die Lore-Ley» zu erfahren oder den roten Rheinfaden aufzuspüren versucht, wird bei Stichmann nicht auf seine Rechnung kommen. Die darauf verwendete Lesezeit ist nicht direkt verloren, aber die Wirkung der vor sich hin plätschernden Diskretprosa ist nichts für die Ewigkeit.

Das zeigt auch meine eigene Erfahrung. Als ich für eine weitere Folge von Beiträgen für diesen Blog einige Wochen nach der Lektüre die Cover der gelesenen Bücher checkte, wollte mir bei «Loreley» partout nicht mehr einfallen, worum es da gegangen war und ich musste mich nochmals kurz in die ersten Seiten einlesen

Zuleika. Von Bernadine Evaristo.

Wer im Gymnasium acht Schuljahre lang mit je sieben Wochenstunden Latein traktiert worden ist, fragt sich ja später oft, wozu diese endlose Übung gut gewesen sein könnte. Seit die anbetungswürdige Bernadine Evaristo («Mädchen, Frau etc.», «Mr. Loverman») mit ihrem neuen Roman «Zuleika» die Beststellerlisten stürmt, profitieren aber die Lateiner unter ihrer Leserschaft unerwartet von einem Payback auf die damaligen Mühen. Elegant streut die 65-jährige britische Erfolgsautorin und Professorin für Kreatives Schreiben nämlich immer wieder – und unübersetzt! – lateinische Vokabeln und Redensarten in die Erzählung, deren Bedeutung sich nur studierten Altphilologen erschliesst.    

Die Geschichte spielt in Londinium und Eboracum am normannischen Rand des grossrömischen Reichs, wobei Evaristo die aktuellen Orts- und Quartiernamen von London und York verwendet. Dort lebt ihre Heldin Zuleika als Kind nubischer Einwanderer und macht jene Erfahrungen, die ihre schwarzen Geschlechtsgenossinnen heute noch in der Alten Welt machen. Sie wird mit einem dicken alten römischen Funktionär verheiratet, der sie die längste Zeit des Jahres im nasskalten England allein lässt, während er sich auf «Dienstreise» mit Gespielinnen im warmen Süden des Reichs vergnügt.

In seiner Abwesenheit weckt die glutäugige Schöne die Aufmerksamkeit des syrischstämmigen - und somit seelenverwandten - römischen Kaisers Septimius Severus (146 – 211 n. Chr.), der auf die britischen Inseln gekommen ist, um die Provinz gegen die Normannen zu verteidigen. Das Ende einer kurzen, für Zuleika jedoch grossen Liebe ist unausweichlich: Ihr Ehemann erfährt vom Seitensprung seiner Frau und rächt sich auf grausame Weise für ihre Untreue.

Evaristo variiert in diesem Buch auf höchstem Niveau das Cliché von der schwarzen Schönen von niederem Stand, die es ins Establishment schafft, aber schliesslich an den Flammen einer für sie unerreichbaren Passion verglüht. Und wie immer tut sie es so, dass man das Buch – inklusive lateinische Einsprengsel – in einem Zug durchliest. Divinus libellum est!