Strandgut. Von Benjamin Myers.

Regelmässige Leserinnen und Leser meiner Checks wissen um meine Vorliebe für Autoren aus Japan und dem angelsächsischen Raum. In dieser Neigung hat mich Benjamin Myers neues Buch einmal mehr bestätigt. In «Strandgut» erzählt der 49-jährige Brite die Geschichte von einem alten Soulsänger aus den USA, der unverhofft an ein Festival in England eingeladen wird.

Dieser Bucky Bronco ist alt und krank und hat vor kurzem seine Frau verloren. Seither lebt er schmerzgeplagt zwischen Bett und Apotheke, wo er die Drogen «für die goldenen Momente» in seinem trostlosen Alltag bezieht. Obwohl er seine musikalische Laufbahn schon vor Jahrzehnten beendet hat, nimmt er die Einladung an, verlässt er das erste Mal in seinem Leben die USA und fliegt nach England, wo sein einziger Hit zu seiner Überraschung offenbar die Zeit überdauert hat. Unglücklicherweise vergisst der Opioidsüchtige seine Medikamente im Flugzeug und erlebt deshalb die Tage in Scarborough durch den Schleier eines kalten Entzugs.

Auf diesem Horrortrip betreut und rundumversorgt wird Bucky dabei von Dinah, deren Situation ähnlich hoffnungslos ist wie die seine. Die schlecht bezahlte Supermarktkassierin ist mit einem arbeitslosen Rüpel verheiratet und hat zudem ihren spielsüchtigen Sohn am Hals. Die beiden gescheiterten Existenzen nähern sich einander an, richten sich aneinander auf, und schliesslich schleppt Dinah den Top-Act auf die Festivalbühne, wo dieser von der Begeisterung des Publikums zu einem grandiosen Comeback getragen wird. Nach der Siegesfeier überredet Dinah Bucky zum Schwimmen im Meer. Sie hat beschlossen, sich von ihrem Mann zu trennen; er könnte sich vorstellen, in England – und damit bei ihr – zu bleiben. Das menschliche Strandgut scheint somit zusammen doch noch in einen sicheren Hafen einzulaufen.

Ich habe diese grossartig erzählte Geschichte geliebt, nicht nur wegen des originellen Plots, sondern auch wegen der beiden Protagonisten perfekt entsprechenden Sprache. Dank der fabelhaften Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence ist hier die deutsche Fassung dem englischen Original für einmal mehr als nur ebenbürtig. Ein Genuss!

Der Einfluss der Fasane. Von Antje Ravik Strubel.

Die 51-jährige deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin nimmt sich in diesem Buch der #meetoo-Thematik an. Hauptfigur ist die Journalistin Hella Karl, als kompetente Feuilletonchefin ihrer renommierten Zeitung unbestritten und geachtet, bis sie mit einer heissen Geschichte aus diesem Bereich nicht hinter dem Berg hält.  

«Der Einfluss der Fasane» beginnt mit dem Selbstmord eines einflussreichen deutschen Theaterintendanten, der sich kraft seiner Macht und seines Amtes immer wieder ungenierte Übergriffe gegenüber weiblichen Mitgliedern seiner Ensembles zu leisten pflegte. Und wie so häufig in solchen Fällen: Viele sind Opfer, alle haben es gewusst, aber niemand hat darüber gesprochen. Bis auf Hella, die schliesslich einen besonders verwerflichen Vorgang recherchiert und in ihrem Blatt dokumentiert. Auf dem Höhepunkt des anschliessenden Skandals nimmt sich der Mann das Leben, worauf der Shitstorm die Richtung ändert und sich gegen die Journalistin richtet. Der kostet ihr erst den Job, dann die Seelenruhe.

Als gelernter Journalist habe ich diese Story mit gemischten Gefühlen gelesen. Die Autorin zeichnet nicht nur ein ziemlich clichiertes und wenig detailliertes Bild sowohl vom Machtgefälle hinter Theaterkulissen, sondern auch von der journalistischen Arbeitsweise bei der Aufdeckung eines Skandals. Ich verstehe die renommierte Kritikerin Sigrid Löffler, die sich in der Süddeutschen Zeitung darüber geärgert hat, dass Strubel die Kulturjournalistin Karl «als so gewissenlosen und tumben Trampel» gezeichnet hat.

Die titelgebenden Fasane kommen im übrigen erst auf der allerletzten Seite ins Spiel, als einer von ihnen mitten auf Hellas nächtlichem Fahrradheimweg das Rad schlägt und sie ins Schleudern bringt. Der letzte Satz der Geschichte lautet «Ehe alles ins Dunkel fiel.». Die Vermutung liegt demnach auf der Hand, dass Karl zwar den einen Pfau zur Strecke gebracht hat, schliesslich aber selber einem anderen zum Opfer fällt.

Täuschend echt. Von Charles Lewinsky.

Zwei erfolgreiche Schweizer Autoren der Gegenwart - zwei unterschiedliche Methoden: Während Martin Suter gefühlt immer dasselbe Buch schreibt, erfindet sich Charles Lewinsky mit jedem Werk neu. In «Täuschend echt» wagt er sich an ein Szenario, das viele seiner Zunft fürchten wie der Teufel das Weihwasser: Die künstliche Intelligenz. Nicht nur Zukunftsforscher prophezeien ja, dass diese Schriftsteller aus Fleisch und Blut dereinst überflüssig machen könnte.

Der Ich-Erzähler in Lewinskys aktuellem Buch macht das Beste aus dieser Herausforderung. Nachdem er Freundin, Kreditkarte und Job verloren hat, heuert der arbeitslose Werber bei einem stinkreichen Mäzen an, der mit Tatsachenberichten über schwierige Schicksale und gesellschaftliche Missstände die Herzen der Menschen erweichen und deren Geldbeutel für seine philantrophischen Projekte öffnen will. Der ehemalige Texter für Frühstücksmüsli liefert ihm jedoch statt Facts ein fiktives Rührstück über eine junge, in Deutschland lebende Afghanin, die von ihrem Vater geschlagen und in der Heimat zwangsverheiratet wird. Für diese Story holt er sich Unterstützung bei der KI, die er Kirsten nennt. Als das Buch auf den Bestsellerlisten landet und die erfundene Hauptperson Shabnam für Lesungen angefragt wird und sogar in der TV-Sendung von Dennis Scheck auftreten soll, kann sich der KI-Zauberlehrling nur mit einem ultimativen Trick aus der Klemme befreien.

Leichtfüssig und ironisch schildert der 79-jährige Zürcher Allrounder die Zusammenarbeit des Menschen mit der Maschine und baut die real und manchmal verschiedenen Versionen gelieferten KI-Beiträge kursiv in den Text ein. Die Zusammenarbeit mit der virtuellen Assistentin wird im Verlauf der gemeinsamen Arbeit an der Shabnam-Story so eng, dass der Schreiber von «Kirsten», wie er sie bald nennt, auch Antworten auf allgemeine und persönliche Fragen erbittet.

Die Lektüre von «Täuschend echt» ist für die Lewinsky-Gemeinde ein weiteres ungetrübtes Vergnügen. Zwischen den Zeilen der beiden Handlungsstränge (Shabnam-Story und KI-Experiment) liest man aber auch leicht beklommen, welche Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz im Literaturbetrieb dereinst zufallen könnten.

Das Fest. Von Lucy Fricke.

Ihr letztes im Büchercheck besprochene Werk https://www.buechercheck.com/2022/07/31/die-diplomatin-von-lucy-fricke siedelte Lucy Fricke so realistisch in der Welt des deutschen diplomatischen Dienstes an, dass der einstige BRD-Aussenminister Heiko Maas eine unbedingte Leseempfehlung aussprach. Ihr neues Buch «Das Fest» hingegen ist das pure Gegenteil, nämlich ein phantasievoll erdachtes Märchen.

Hauptperson ist der einst erfolgreiche und in Vergessenheit geratene Filmregisseur Jakob, der fest entschlossen ist, den Tag seines 50. Geburtstag zu ignorieren. Daran hindert den desillusionierten Single aber Ellen, die schon früh zum Gratulieren aufkreuzt und den Freund aus früheren Tagen zu einem gemeinsamen Besuch im Hallenbad überredet. Dort ist sie aber nach dem Schwumm plötzlich verschwunden; dafür trifft Jakob in der Umkleide auf eine andere Verflossene, mit der er weiterzieht.

Dass diese Begegnung kein Zufall war, stellt sich im weiteren Verlauf des Tages heraus. Jakob wird auf verschlungenen Pfaden von einer alten Bekannten zum nächsten Freund aus alten Tagen weitergereicht, erinnert sich mit ihnen an Erfreuliches und weniger Angenehmes und arbeitet bei diesen Begegnungen jedesmal ein Stück Vergangenheit auf. Zwar zieht sich der Tollpatsch auch jedesmal eine kleine Blessur zu und landet so zum Abschluss des Tages derangiert, aber mit seinem Geburtstag und seinem bisherigen Leben einigermassen versöhnt, an der abschliessenden Party mit allen Überraschungsgästen, zu der auch die Drahtzieherin Ellen wieder auftaucht.

In «Die Diplomatin» hat Lucy Fricke aus Facts des politischen Alltags eine fiktive Story gestrickt. Die Geschichte um den Geburtstag von Griesgram Jakob und die gute Fee Ellen dagegen ist mit Sicherheit ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit, aber mit der gleichen Leichtigkeit und Eleganz geschrieben. Dieses Fest hat Spass gemacht!

Abgehängt. Von Thomas Blubacher.

Ich habe im Rahmen meiner Beiträge zu diesem Blog wohl schon angedeutet, dass ich um Kriminalromane aus und über Basel seit jeher einen Bogen mache. Seit es Bezahlverlage und Selfpublishing-Plattformen gibt, wird dieses Feld emsig beackert von Hobbyautoren und Möchtegernschriftstellerinnen, deren Manuskripte jedes Verlagshaus mit einer Standardabsage retournieren würde. Offenbar verhilft diesen Amateuren jedoch das anbiedernde Lokalkolorit, mit dem sie ihre dünnen Stories zwischen Claraplatz und Bruderholz würzen, zu einer treuen regionalen Leserschaft.

Auch der ausserordentlich produktive und vielseitig beschäftigte Basler Autor und Regisseur Thomas Blubacher (* 1967) erlag nach einer erfolgreichen Karriere in Film, Funk und Fernsehen sowie verschiedensten Sparten des deutschsprachigen Theaters letztes Jahr der Versuchung, mit «Ausgespielt» einen historischen Basler Krimi zu schreiben. Auf Empfehlung meines Co-Checkers habe ich nun dessen Nachfolger «Abgehängt» gelesen, und was soll ich sagen, mich dabei prächtig amüsiert. Blubacher hat nämlich gewissenhaft recherchiert und kann daher seine Story über einen Mord im Hause des Junggesellen Merian an der Rittergasse mit jeder Menge witziger Details aus dem Vorkriegs-Basel und dem damaligen "Daig" würzen. Vor allem die literarischen Anspielungen und Kalauer, mit denen der Protagonist Max Werthemann und sein offen homosexueller Freund Simon in geistreichen Dialogen und süffisanten Anspielungen um sich werfen, haben mich als ehemaligen Schüler des oft vorkommenden «HG» (Humanistisches Gymnasium, heute GAM Gymnasium am Münsterplatz) bestens unterhalten.

Der abgehandelte Kriminalfall ist allerdings ähnlich kompliziert und unlogisch wie die meisten seiner lokalen Pendants, und erst ganz am Schluss erschliesst sich dem streckenweise verwirrten Leser auch die Pointe, die der Romantitel und das Cover setzen sollen. «Abgehängt» wird nämlich der beleibte und verfressene Kriminalkommissär Jakob Staehelin von der Mittäterin Hermine und dem Drämmli, in das die Flüchtige am Kunstmuseum steigt. Es bringt sie damals noch via Riehen nach Lörrach - und damit ausser Reichweite der Schweizer Polizei.

Wut und Liebe. Von Martin Suter.

Im April 2023 habe ich «Melody» https://www.buechercheck.com/2023/04/10/melody-von-martin-suter, ein Jahr darauf «Allmen und Herr Weynfeld» https://www.buechercheck.com/2024/04/28/allmen-und-herr-weynfeldt-von-martin-suter besprochen und weitere 12 Monate später habe ich von Martin Suter nun, im April 2025, «Wut und Liebe» gelesen. Mein damaliges Urteil «Suter bleibt Suter!» gilt auch für diesen Check.

Denn auch in seinem neuesten Roman mixt der frühere Werber eingängige Charaktere wie den erfolglosen Künstler Noah, die ihn aushaltende Camilla und die verwitwete Geldadlige Betty Hasler mit Zürcher Lokalkolorit zu einem süffigen Lektürecocktail. Die Story dreht sich in der Hauptsache um eine Werbeagentur und ihre beiden Inhaber, von denen der eine gemäss Betty den anderen – ihren Mann - schamlos ausgenutzt und damit in den Herztod getrieben haben soll. Sie setzt den mittellosen Noah mit dem Versprechen eines Millionenhonorars als Killer auf den vermeintlichen Mörder an und allein die lakonische Schilderung der Ungeschicklichkeiten, mit den der tollpatschige Feingeist dieses ruchlose Unterfangen angeht, lohnt jeden Franken, den man für dieses Buch ausgegeben hat ...

Regelmässige Suter-Leser wissen, dass bei diesem Autor am Ende nichts so ist, wie es am Anfang ausgesehen haben mag. Das ist auch bei «Wut und Liebe» nicht anders. Zwar zieht die Liebe (oder besser der gute Sex) die abgängige Camilla zu ihrem Lover zurück, aber weder fliesst die Million noch war der Werber wirklich der Mörder. Auch wenn man die überraschenden Schlüsse Suters mittlerweile kennt, ist man doch immer wieder überrascht von den Wendungen, die der Erfolgsschriftsteller seinen Geschichten buchstäblich auf der letzten Seite zu geben vermag.

Es gibt mittlerweile eine Kritikerfraktion, die dem Schweizer Erfolgsautor zu viel Sinn für Marketing und zu wenig schriftstellerische Potenz nachsagt. Wer ein ungetrübtes und irgendwie auch anheimelndes Buch lesen will, wird sich aber um solches Gemäkel nicht scheren.

Thomas Mann macht Ferien. Von Kerstin Holzer.

Der wirkungsmächtigste unter den deutschen Schriftsteller-Titanen wäre 2025 150 Jahre alt geworden. Natürlich überbietet sich die Literaturszene in diesem «Thomas Mann-Jahr» gegenseitig mit Würdigungen, Gedenkveranstaltungen und Neuauflagen. Und manch ein Autor, manch eine Autorin packt die günstige Gelegenheit, sich in und mit Manns Namen ins Feld der «Spiegel»-Bestseller zu drängen.

Dort hat die 58-jährige Münchner Journalistin Kerstin Holzer schon mehrere Werke platziert, unter anderem «Monika Mann und ihr Leben auf Capri». Die Ferienassoziation dieses Titels hatte offenbar bei der Leserschaft gezogen, so dass Holzer ihr neues Buch nun den 1918-er Ferien von «Mönles» Vater Thomas widmete. Wir erfahren von diesem Sommer am Tegernsee, dass die Kinder schwimmen und Rotaugen angeln, der Patriarch rudert, spazieren geht und erstmals einen Berg besteigt. Und dann fällt ihm auch noch ein Zahn heraus!

Aufschlussreicher als dieses Idyll ist aber die Schilderung der politischen Entwicklungen in diesem letzten Jahr des 1. Weltkriegs und ihre Auswirkungen auf Thomas Manns Seelenlage. Die Deutschen stehen kurz vor einer Niederlage, Revolution liegt in der Luft, und mit seinem monarchiefreulichen und demokratiekritischen Manifest «Betrachtungen eines Unpolitischen» hatte er sich ziemlich in die Nesseln gesetzt. Deswegen gab's auch Krach mit seinem Bruder Heinrich, und statt an seinem nächsten grossen Projekt «Der Zauberberg» weiterzuarbeiten, sinniert der dergestalt Schreibgehemmte in «Herr und Hund» einigermassen belanglos über die täglichen Spaziergäng mit seinem Hühnerhund Bauschan.

Der fluffig-unverbindliche Stil dieses heiteren Holzer-Werks wird Kinderbuchfans aus der Generation des Buchcheckers möglicherweise an den Klassiker «Die Turnachkinder im Sommer» von Ida Bindschedler (erschienen 1906) erinnern. Und aus meinem Mund ist das keine Kritik, sondern eine verbindliche Leseempfehlung!

Graffenrieds Gründung. Von Nicolas Ryhiner.

Nicolas Ryhiner wandelt in seinen Büchern auf den Spuren ausgewanderter Eidgenossen. Den Stoff für seinen Erstling fand der Sprössling  des erweiterten Basler «Daig» im eigenen Vorfahrenregister, handelt «Im Surinam» doch vom Handelskaufmann Johann Rudolf Ryhiner und dessen dortigem Wirken im frühen 19. Jahrhundert. Diesmal geht es um die Kolonie, die der Berner Christoph von Graffenried 1710 in Nordamerika errichtete.

«Graffenrieds Gründung» stand unter einem schlechten Stern, glaubt man den Memoiren, die der gesellschaftlich geächtete Rückkehrer um 1730 im Schloss Worb verbittert und ständig gestört vom letzten verbliebenen Bediensteten zu Papier bringt. Schon die achtwöchige Überfahrt auf dem Dreimaster «Berna» anno 1710 erwies sich als Grenzerfahrung für die Belegschaft und die Passagiere, Wiedertäufer und Simmentaler Bauern, die von der Berner Obrigkeit nach Übersee abgeschoben worden waren. Auch «New Bern», das Graffenried an der Südostküste der heutigen USA gründete, verzeichnete einen mehr als harzigen Start. (Heute zählt die Stadt laut Wikipedia immerhin 30'000 Einwohner.)

Zwar hatte sich der Gründer die Unterstützung von Königin Anne von England dadurch gesichert, dass er auf seinen Trip in die damals noch englischen Gebiete um ihres Glaubens wegen Verfolgte aus der Pfalz mitnahm, die zu jener Zeit als Flüchtlinge London überschwemmten. Doch örtliche Autoritäten erwiesen sich als Schlitzohren, die politischen Verhältnisse waren kompliziert, ihm zugesicherte Latifundien entgegen den Versprechungen von Indigenen bewohnt und auch sonst deckte sich wenig mit den königlichen Zusicherungen und den Vorstellungen des Schweizer Idealisten. Sein Traum endete in einem Krieg mit dem indigenen Stamm der Tuscarora, bevor er ernüchtert und rundum gescheitert nach Hause zurückkehrte.

Wer zu unterhaltsamen Romanen aufbereitete Schweizer Regionalgeschichte liebt, ist bei Ryhiner an der richtigen Adresse. Ich habe mich von ihm nach «Surinam» gerne auch nach «New Bern» mitnehmen lassen.  

Dream Count. Von Chimamanda Ngozi Adichie.

Frauenliteratur stand lange nicht zuoberst auf meiner To-read-Liste. Erst nach längerem Zögern hatte ich mir im März 2021 Bernardine Evaristos «Frau, Mädchen etc.» heruntergeladen - und war begeistert: https://www.buechercheck.com/2021/08/03/maedchen-frau-etc-von-bernardine-evaristo/. So griff ich ohne Zögern zum neuen Buch der aktuell vielgepriesenen 47-jährigen nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, schien der Klappentext doch ein typähnliches Konzept zu schildern: «Vier Frauen, vier Leben und die Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Liebe und Selbstbestimmung».

Bei den vier schwarzen (oder wie in der deutschen Übersetzung politically correct ‘Schwarzen’) Frauen mit nigerianischem Pass handelt es sich um die Reiseschriftstellerin Chiamaka, die zwischen ihrem Herkunftsland und ihrem US-Zuhause pendelt, ihre alleinerziehende Haushälterin Kadiatou, die Anwältin Zikora, die in Washington D.C. wohnt und Omelogor, die in der Heimat geblieben ist. Die Vier halten permanent über die Kontinente hinweg Kontakt und diskutieren ihre Probleme, die von der wehmütigen Bilanz gewesener Liebhaber («Dream Count») über die Konflikte mit der Mutter oder die Beihilfe zu korrupten Bankgeschäften bis hin zum Vergewaltigungsprozess reichen.

Leider erreicht dieser 460-seitige unablässige Austausch zwischen dem Quartett nicht annähernd die Qualität und Originalität von Evaristos Figuren und Schicksalen. Die desillusionierte Aufzählung von Chiamakas Verflossenen berührte mich gar über weite Strecken peinlich, was auch an meinem biologischen Geschlecht liegen mag. Aber dass sich die Autorin nicht geniert, für die Geschichte des Hotelzimmermädchens Katiadou 1:1 jene von Nafissatou Diallo nachzuerzählen – also jenes guineeischen Zimmermädchens, das 2010 vom französischen Diplomaten Dominique Strauss-Kahn in einer New Yorker Hotelsuite vergewaltigt worden war – ist ebenso deplaziert missionarisch wie billig. Leider hat mich das Buch über weite Strecken gelangweilt.

Als wir Schwäne waren. Von Behzad Karim Khani.

Behzad Karim Khani wurde 1977 in Teheran geboren und wuchs dort in einer Künstlerfamilie auf. Mit zehn Jahren floh er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er in Bochum Kunstgeschichte und Medienwissenschaften studierte. Seit 2003 lebt er in Berlin-Kreuzberg, wo er von 2012 bis 2022 eine Bar betrieb. Seinen Debütroman haben wir 2022 gecheckt:

https://www.buechercheck.com/2022/11/30/hund-wolf-schakal-von-behzad-karim-khani/.

Auch in seinem zweiten Buch macht Khani sein Aufwachsen als iranischer Junge in Deutschland zum Thema. Diesmal fokussiert er nicht auf die deutsche Hauptstadt als Zentrum der hauptsächlich ausländisch konnotierten Bandenkriminalität, sondern auf das Ruhrgebiet, wo er seine Jugendjahre verbracht hat. Dementsprechend schlägt der junge Wilde, in den er sich und uns zurückversetzt, versöhnlichere Töne an. Es gibt zwar auch im «Pott» Gewalt in den Strassen, aber auch heitere Momente, Demütigungen ebenso wie glückliche Kindheitserinnerungen.

Bewegend ist das Porträt, das der Autor von seinem Vater zeichnet. Der in seiner Heimat geschätzte, feinsinnige und gebildete Künstler hat sich mit dem Exil im fremden Land nie arrangiert und reagiert auf die Demütigungen des Lebens vor Migrationshinterhund mit ausdauerndem Schweigen. Der 48-jährige Deutsch-Iraner Khani erzählt aber nicht nur von den Eingewanderten als Aussenseiter der Gesellschaft, sondern auch von denen, die sie zu solchen machen. Anders als in seinem ersten Buch tut er dies weniger aggressiv, brutal und impulsiv, sondern wählt vielmehr eine bedachtere, poetische und bildreiche Sprache.

Allen, die unreflektiert die Parolen rechtskonservativer Parteien in Migrationsfragen nachbeten, sei dieser packende Roman ans Herz gelegt. Er handelt von einer Familie, die nach Deutschland kam, ohne dort wirklich angekommen zu sein. Kein leichter Stoff, aber auf jeden Fall lesenswert!