Das glückliche Geheimnis. Von Arno Geiger
Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis
Das ist ja ein Ding! Da lädt man sich, aufmerksam geworden von einer beiläufig überflogenen Besprechung im gehobenen Feuilleton, ein Buch mit dem Titel «Das glückliche Geheimnis» auf den Reader und beginnt ohne weitere Vorbereitung mit der Lektüre. Die Story beginnt vielversprechend, handelt sie doch von einem jungen Mann, der täglich in aller Herrgottsfrühe durch Wien radelt und Altpapiercontainer durchwühlt. Die dabei gemachten Funde, von Tagebüchern über Briefe bis hin zu Raritäten wie «Die gründliche Violinschule» von Leopold Mozart aus dem 18. Jahrhundert inspirieren ihn zum schriftstellerischen Schaffen, mit dem er den Rest des Tages füllt.
Spätestens an dieser Stelle wurde ich stutzig und googelte den Autor Arno Geiger, von dem ich zugegebenermassen nicht nur noch nie etwas gelesen, sondern auch wenig gehört hatte. Dabei stellte sich heraus, dass die Altpapierbesessenheit des Ich-Erzählers keineswegs fiktiv war, sondern die langjährige heimliche Leidenschaft des 54 jährigen Österreichers, von dem bis zum Erscheinen des Buchs allerdings nicht nur ich, sondern auch kaum jemand anders gewusst hat. Ein «glückliches» Geheimnis eben, aber dieses Doppelleben hat Geiger gemäss eigenem Bezeugen zu seinem respektablen Ruf als Schriftsteller verholfen. Immerhin erhielt er 2005 für seinen Roman «Es geht uns gut» den Deutschen Buchpreis.
Von diesem Highlight seines Schaffens ist im «Glücklichen Geheimnis» denn auch verschiedentlich die Rede. Und auch sonst enthüllt das offenherzige, gefällig geschriebene und leichthin gelesene Buch viel Persönliches über den Verfasser. «Anläufe und Enttäuschungen, Finden und Wegwerfen und vom Glück des Gelingens» eben, wie es der Klappentext formuliert.
Argentina 1962 - 1964. Von Trudi Harmath
«Willst du immer weiter schweifen, wenn das Gute liegt so nah?» fragte einst Johann Wolfgang von Goethe. Beim Lesen kann man manchmal beides gleichzeitig - vorausgesetzt, man nimmt den Reisebericht eines lokalen Autors zur Hand. So entführt uns die Baslerin Trudi Harmath in ihrem Buch «Argentina 1962 – 1964» nach Südamerika.
Dass junge Leute nach Abschluss ihrer Ausbildung erst einmal die Welt bereisen wollen, ist nicht Neues. So bewirbt sich die 1936 geborene und eben frisch diplomierte Kinderkrankenschwester Gertrud Bachmann um eine Stelle in Buenos Aires. Unvorbereitet und mit rudimentären Sprachkenntnissen geht sie 1962 auf die Reise, und schon die arglosen Schilderungen der Schiffspassage über den Atlantik sind köstlich. Die reiseungewohnte Trudi ist eine Art «Forrest Gump» avant la lettre; rund um sie herum passieren die skurrilsten Dinge, die sie ungerührt und ohne Gemütsaufwallung zur Kenntnis nimmt und kommentiert.
Im gleichen Stil geht es weiter, als sie in Buenos Aires auf ihre «Herrschaften» trifft. Die reiche jüdische Familie hat vier Kinder, eine grosse Wohnung in der Hauptstadt sowie zwei Farmen und ein Ferienhaus für den Winter. Zwischen diesen teils um Tagereisen auseinanderliegenden Domizilen reist die junge Frau mit ihren Schutzbefohlenen pausenlos hin und her; zeitweise allein mit den Kindern, weil die Eltern wochenlang abwesend sind. Doch die beherzte Schweizerin meistert auch die bizarrsten Situationen mit gesundem Menschenverstand und schildert sie so nüchtern-distanziert, als seien es Selbstverständlichkeiten.
Trudi geht unbeschadet aus allen überseeischen Abenteuern hervor und kehrt nach zwei Jahren um jede Menge Erfahrungen ins heimatliche Basel zurück. Dort macht sie sich in der Elternberatung, als Puppenspielerin und mit einem Märchenbuch einen Namen als Kunstschaffende. Ihr Buch ist kein Kandidat für einen Buchpreis, aber auf jeden Fall unterhaltende und zeitgeschichtlich aufschlussreiche Lektüre.
Tausche zwei Hitler gegen eine Marylin. Von Adam Andrusier
In einem früheren Check (https://www.buechercheck.com/2022/02/20/serge-von-yasmina-reza/) habe ich mein Faible für den jüdischen Humor offengelegt. Ohne es darauf abgesehen zu haben, bin ich nun in Adam Andrusier auf einen neuen Stern an diesem Witzhimmel gestossen. Und habe in seinem Erstlingsroman «Tausche zwei Hitler gegen eine Marylin» eine mir bisher völlig unbekannte Welt entdeckt.
Der Ich-Erzähler Adam sammelt Autogramme, handelt sogar damit. Auf den ersten Buchseiten hielt ich diese Marotte für fiktional und ein Mittel des pubertierenden Jungen, sich von seinem ebenfalls exzessiv sammelnden Vater (Postkarten von zerstörten Synagogen ...) abzugrenzen. Schon nach den ersten Kapiteln, die jeweils mit den Namen und den Signaturen Prominenter von Boris Jelzin bis Monica Lewinsky eingeleitet werden, wurde mir jedoch klar, dass die vermeintliche Fiktion Andrusiers gelebte Realität widerspiegelt.
Trocken, wie unbeteiligt und gerade deshalb höchst unterhaltend erzählt Adam von jeder Unterschrift, wie er sie ergattert oder an einer einschlägigen Messe gekauft respektive getauscht hat. Wer sich nie mit diesem Hobby auseinandergesetzt hat, staunt über die Anlässe, Figuren und Publikationen, die diese ganz eigene Welt bevölkern. Und dass es die wirklich gibt, bestätigt Wikipedia. Dort wird der Autor nicht nur als Musiker, sondern tatsächlich auch als international renommierter Autogrammsammler und -händler gelistet.
Noch besser zum Tragen kommt der jüdische Humor in der parallel zur erzählten Familiengeschichte. Die illusionsfrei geschilderten Zores des jungen Adam mit dem hyperaktiven Vater und der frustrierten Mamma, deren Ehe vor seinen Augen scheitert, aber auch der Leidensweg im Umgang mit dem anderen Geschlecht bis hin zur glücklichen Ehe mit Rachel treiben eins übers andere Mal Lachtränen in die Augen. Und sind vermutlich so aus dem wirklichen Leben gegriffen wie Andrusier und seine Autogramme.
Melody. Von Martin Suter.
Ein neues Buch von Martin Suter ist für den Fan des früheren Starwerbers vergleichbar mit dem Eintauchen in ein warmes Bad. Wie das wohltemperierte Wasser in der Wanne umplätschert einen alsbald wohlig der lakonisch-distanzierte Duktus der Suter’schen Sprache, parfümiert mit der vertrauten Duftmischung aus Business Class, Geri Weibel und Allmen. Wie kein zweiter versteht es der 75-jährige Zürcher mit Basler Vergangenheit, Alltag und Abenteuer seiner sorgfältig charakterisierten Figuren mit dem Lack liebevoll beobachtender Ironie zu überziehen. Auch im neuen Roman mit dem Titel «Melody».
So heisst die junge Buchhändlerin, die dem hochdekorierten Zürcher Verwaltungsrat, Unternehmer, Offizier, Politiker und Zünfter Peter Stotz den Kopf verdreht, ihn aber kurz vor der mit allem Pomp und Prestige geplanten Hochzeit überstürzt verlässt und nie mehr auftaucht. Suter läuft erwartungsgemäss bei der genüsslichen Schilderung dieses Typs, seines Zürichberg-Milieus und der dort dominierenden Gesellschaftsschicht zur Hochform auf. Ebenso bei der Charakterstudie des gescheiterten Studenten Tom Elmer, der ein halbes Jahr vor Stotzens Tod für ein fürstliches Honorar dessen Archiv auf eine makellose, nachrufgeeignete Grösse ausmisten soll. Bei dieser Arbeit, während der er sich in des Alten Nichte und Alleinerbin Laura verliebt, stösst er auf geheimnisvolle Spuren besagter Melody. Alle deuten darauf hin, dass Stotz das Verschwinden seiner grossen Liebe nicht verwunden und die Suche nach ihr nie aufgegeben hatte.
Als Stotz schliesslich das Zeitliche segnet und Laura als mehrfache Millionärin zurücklässt, macht sich diese mit Tom auf Spurensuche. Die beiden reisen auf eine abgelegene griechische Insel, wo man ihnen einen todkranken Ehemann und das Grab mit dem Namen der Gesuchten präsentiert. Dass aber auch da nichts so ist, wie es aussieht, dafür sorgt Suter mit der von seinen Gewohnheitslesern ungeduldig erwarteten und vom Meister immer noch perfekt beherrschten Wendung auf der letzten Buchseite. Muss man selber lesen ...
Chöid ers eso näh? Von Pedro Lenz
von Roger Thiriet
In einem früheren Check habe ich geschrieben, dass noch lange nicht jede(r) begabte Kolumnist(in) auch einen anständigen Roman zustande bringt (https://www.buechercheck.com/2022/02/20/ende-in-sicht-von-ronja-von-roenne/). Nach der Lektüre der Kolumnensammlung von Pedro Lenz muss ich sagen: Das gilt auch umgekehrt. Während Lenz in seinen Romanen wie «Dr Goali bin ig» oder «Primitivo» https://www.buechercheck.com/?s=Pedro+Lenz mit authentischen Milieuschilderungen und grossartig gezeichneten Charakterstudien zu brillieren weiss, kommen seine gesammelten Kolumnen unter dem Titel «Chöit ers eso näh?» kaum je über den öden Alltagsbeobachtungskolumnen-Mainstream hinaus, aus dem leider in den Deutschschweizer Medien nur noch vereinzelt wirkliche Könner(innen) dieses anspruchsvollen Fachs herausstechen.
Interessant ist an diesem harschen Urteil übrigens die Rolle des Dialekts, dem Markenzeichen Lenz’scher Prosa. Während sein Bern-/Solothurn-/Oberaargau-Dialektgemisch als unverwechselbares Stilmerkmal in seinen Romanen die Authenzitität der lakonischen Lenz-Schreibe betont und quasi «veradelt», bewirkt der Dutzenddialekt in Kolumnen wie «Chöit ders eso näh?» genau das Gegenteil. Der Dialekt wird hier zum «Buuretütsch», zur Ausdrucksform der einfachen Leute, die nicht einmal hochdeutsch können, und verstärkt entsprechend die Einfachheit und das Belanglose des Inhalts. «Der Berner Pedro Lenz ist derzeit wohl die begehrteste Stimme im Bereich Spoken Word», lobte einst die SRF-Mundart-Spezialistensendung «Schnabelweid», «also jener Literatur, die primär für die Bühne geschrieben wird.» Und nicht für intelligente und originelle Kurztexte – vor allem, wenn diese keins von beiden sind.
Tagebücher I & II. Von Manfred Krug
Eine hymnische Besprechung des Tagebuchs von Manfred Krug im Feuilleton der ZEIT weckte mein Interesse. Schon als Schüler hatte ich die «Memoiren des Peterhans von Binningen» alias Curt Goetz verschlungen und seither habe ich eine Schwäche für Biografien von Akteuren aus Theater, Film, Funk und Fernsehen. Glücklicherweise habe ich aber die Krug-Lektüre nicht mit dem zweiten, im Januar 2023 erschienen Band seines Tagebuchs («Ich bin zu zart für diese Welt», 1998/1999) begonnen, sondern mit Teil I mit dem Titel «Ich sammle mein Leben zusammen» (1996 und 1997).
Der Sänger, Schauspieler und Schriftsteller Manfred Krug, der 1977 auf dem Höhepunkt seiner dortigen Popularität aus der damaligen DDR nach Westdeutschland übersiedelte, betreibt in den lakonischen Schilderungen seiner Tage nämlich exzessives «name dropping» und setzt allerhand Wissen über das Showbusiness seiner Zeit und dessen Personal voraus. So müsste man eigentlich - noch vor den Tagebüchern - das Buch «Abgehauen» über Krugs Auswanderung aus der DDR (erschienen 2003) und seine Autobiografie «Mein schönes Leben» (2005) lesen, um die in den Tagebüchern als selbstverständlich vorausgesetzten Familienverhältnisse und das Beziehungsnetz des vielseitig Begabten und Tätigen zu überblicken und alle Zusammenhänge zu verstehen.
Aber egal: Es ist so oder so fast unglaublich, was der Mann Tag für Tag erlebt und notiert. Knapp und lakonisch berichtet er von den Verwicklungen seines Doppellebens mit zwei Frauen und drei Kindern, von ausschweifenden nächtlichen Gelagen in der Berliner Künstlerblase der Zeit, von der rastlosen Arbeit an Dreh- und anderen Büchern, TV-Konsum zu allen Tages- und Nachtzeiten, der ständigen Fliegerei zwischen Berlin und Arbeitsplätzen auf Filmsets für Telekom-TV-Spots und natürlich von der Arbeit an den Sets von «Liebling Kreuzberg» und dem «Tatort», den er von 1984 bis 2001 als singender Tatort-Kommissar Paul Stoever gestaltete – im Duo mit Charles «Brockmöller» Brauer, der heute übrigens im Baselbieter Böckten lebt.
Man wundert sich auf jeder Seite mehr darüber, dass und vor allem wie ein derart ungesund lebender Mensch wie «MK» 1997 nicht nur einen Schlaganfall wegsteckte, sondern danach noch fast zwanzig Jahre lebte und wie besessen arbeitete, obwohl er sich selber schon 1999 immer wieder als «zum Sterben müde» aufgegeben hatte. Beste Unterhaltung!
Sommerschwestern. Von Monika Peetz.
Vier Schwestern im Erwachsenenalter werden von ihrer Mutter zu einem Treffen aufgeboten, und zwar in jenes erinnerungsbefrachtete holländische Stranddörfchen, in welchem die Kölner Familie viele Jahre lang unbeschwerte Sommerferien verbracht hat. Es ist aber auch der Ort, an dem der Ehemann und Vater tödlich verunfallt ist und sich das Leben der Mädchen und ihrer Mutter auf einen Schlag verändert hat. Dort konfrontiert also Letztere die ahnungslosen Ersteren mit einer überraschenden Mitteilung. Soweit der Plot des vierten Romans der 59-jährigen deutschen Fernsehdrehbuchautorin und TV-Dramaturgin Monika Peetz, die mit den «Dienstagsfrauen» und «Sieben Tage ohne» auch als Romancière bekannt geworden ist.
Allerdings stellt der Leser, der sich auf der Suche nach leichter, aber gehaltvoller Unterlagung auf die eigentlich vielversprechende Story eingelassen hat, wieder einmal fest: Könnerschaft im Verfassen von Fernsehdrehbüchern und der Produktion von TV-Filmen ist noch lange keine Garantie für das Gelingen eines Roman mit überzeugend gezeichneten Charakteren und einem durchgehaltenen Spannungsbogen. So plätschert denn die Handlung rosamundepilcherähnlich dahin, hält sich (zu) lange bei den unterschiedlichen Befindlichkeiten der Schwestern und den Capricen ihrer Mamma auf und versucht krampfhaft, mit Landschaftsbeschreibungen der holländischen Küste und Anspielungen auf die Eigenheiten ihrer Bewohner Lokalkolorit zu schaffen.
Das Buch kann sich meiner Meinung nach sparen, wer nicht an den Schrullen und psychischen «Chnörzen» vierer Wohlstandsfrauen und ihrer neurotischen Mutter interessiert ist. Auch die Auflösung des geheimnisvollen Treffens kommt nicht derart unerwartet, dass sie einem die gepflegte Langeweile der vorherigen 290 Seiten vergessen liesse. Empfohlen seien die «Sommerschwestern» allenfalls Holland-Fans, die gerne die Bedeutung niederländischer Satzfetzen aus dem Munde von knorrigen Eingeborenen enträtseln.
Zur See. Von Dörte Hansen.
Ich lese gerne Romane, die vom wechselnden Fokus auf mehrere Personen leben, Menschen, die durch das Geschehen oder die Situation untereinander verbunden sind. Im Mittelpunkt des dritten Buchs der deutschen Erfolgsautorin Dörte Hansen sind dies die Mitglieder der Familie Sanders. Ihre Mitglieder leben seit Generationen als Seeleute und Fischer auf einer kleinen Insel in der Nordsee, die man nur mit einer einstündigen Fahrt auf der Fähre erreichen kann. Die traditionellen Erwerbszweige dort verschwinden allmählich und die Bewohner des Eilands, die noch nicht auf dem Festland arbeiten, arrangieren sich - bis hinein in die Intimität der Schlaf- und Wohnräume des Sander’schen Vorzeige-Fischerhauses - mit dem Folkloretourismus, den Sommerbadegästen und dem Geld, das diese bringen.
Wer sich auf «Zur See» einlässt, merkt schon auf den ersten Seiten, weshalb Dörte Hansens frühere Romane «Das alte Land» und «Mittagsstunde» Beststeller-Status erlangt haben. Die Lektüre entpuppt sich rasch als durch nichts getrübtes Vergnügen. Die Autorin lässt zwar auf jeder Zeile ihre Meisterschaft in der Beherrschung und Anwendung der deutschen Sprache aufblitzen; gleichzeitig nimmt sie aber mit ihrem Erzählstil die Kargheit der Landschaft und die Verschlossenheit ihrer Charaktere auf. Gesprochen wird in dieser Gesellschaft und in der Familie Sanders wenig, ob nun die fatalistische Bewältigung des rauen Inselalltags oder die seelischen und körperlichen Nöte der Protagonisten geschildert werden. Der ausgemusterte Kapitän Jens Sanders. Seine Frau, welche ihr Heim zum B & B umfunktioniert hat. Sohn Rykmer, der von der «weissen Wand» gezeichnet nur noch als alkoholkranker Fähren-Matrose Dienst tun kann. Tochter Eske, die im lokalen Altersheim die alten Insulaner betreut. Sohn Henrik, der am Schluss im Meer ertrinkt. Lakonisch und fatalistisch schildert Hansen deren Alltag, Dialoge kennt das Buch keine. Erst als das Meer einen toten Wal auf den Strand spült und auf dem Dorf-Parkplatz ausgeweidet wird, kommt Bewegung in die norddeutsche Lethargie. Bei aller Depression des Settings ist «Zur See» wieder einmal eines dieser Bücher, bei denen man das Umblättern auf die letzte Seite bedauert.
«Selbstbewusste Baslerin, die nach Amerika auswandert und dort ‘Sitting Bull’ trifft.» Das war in etwa die Synopsis, die nach der beiläufigen Lektüre der Besprechungen des neuen Romans von Alex Capus bei mir hängenblieb. Zur Begegnung mit dem Indianerhäuptling kommt es jedoch erst auf den letzten Buchseiten; sie ist kurz, hängt irgendwie halbfertig in der Luft und lässt Interessierte am Schicksal der indigenen Bevölkerung im amerikanischen Bürgerkrieg ratlos zurück. Ein routinierter Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, der erfolgreiche Schweizer Autor habe in «Susanna» zu viele Seiten auf die Abenteuer der Hauptperson Susanna Faesch und ihrer Mamma in New York verwendet und am Schluss sei ihm die Puste für die Ausgestaltung des Treffens mit dem Indianerhäuptling ausgegangen.
Trotzdem lohnt sich die Lektüre der Story vor allem für Leserinnen und Leser aus Basel und solche, welche einen Bezug zu dieser Stadt und ihrer Geschichte haben. Die Protagonistin hat gelebt und ist 1844 als Susanna Carolina Faesch im Kleinbasel geboren worden. Ein wichtiges Volksfest in diesem Stadtteil rechts des Rheins ist der «Vogel Gryff», ein altertümlicher Brauch, zu dem auch eine Flussfahrt des «WIlden Manns» gehört. Und als dieser die nach der Landung die damals fünfjährige Susanna auf den Arm nahm, um ihr traditionsgemäss einen Apfel aus seinem Fruchtbarkeitskranz zu schenken, fühlte sie sich bedroht und stach ihm durch das linke Auge seiner Maske mit dem rechten Zeigfinger das linke Auge aus. Der schwerreiche Vater aus alter Basler Familie regelte diese Affäre mit Geld.
Diesen Mann und die bequeme Existenz in der Basler «Haute Volée» verlässt Susannas Mutter und reist mit ihr nach New York, wo beide sich neue Existenzen mit wechselnden Männern aufbauen. Einer schenkt Susanna Sohn Christy, mit dem sie schliesslich im Planwagen Richtung Westen aufbricht und Sitting Bull aufsucht. Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen. Nicht nur lokalpatriotisch bin ich auf meine Rechnung gekommen; auch über die Revolte der indigenen Völker gegen die amerikanischen Besetzer habe ich dazugelernt.
Lektionen. Von Ian McEwan.
Es ist ein bewährtes Romankonzept: Zeitgeschichte wird entlang des Schicksals einzelner Charaktere oder parallel zu ganzen Familiensagas erzählt. Versuchen tun das viele; wenigen wie etwa Nino Haratischwili https://www.buechercheck.com/2022/10/08/das-achte-leben-fuer-brilka-von-nino-haratischwili) oder Catalin Dorian Florescu (https://www.buechercheck.com/2022/05/23/der-feuerturm-von-catalin-dorian-florescu/) gelingt es. Unangefochtener Champion der Disziplin ist und bleibt aber der mittlerweile 74-jährige Brite Ian McEwan. Sein vor 20 Jahren erschienenes Meisterwerk «Abbitte» findet in «Lektionen» eine würdige Nachfolgerin. Pflichtlektüre!
Roland Baines, Sohn eines Berufssoldaten, wird als Jugendlicher im Internat von seiner Klavierlehrerin sexuell missbraucht und dadurch früh aus der Bahn geworfen. Als erfolgloser Tennis-Pro, Pianist und Poet, der sein Leben aber mit dem Texten von Postkarten fristet, heiratet er die Deutsche Alissa, die sich im selben Metier erfolgreich entwickelt. Bald nach der Geburt des gemeinsamen Sohns verschwindet sie spurlos aus beider Leben, um sich ganz ihrem schriftstellerischen Schaffen zu widmen. Es ist das Jahr 1986, und während die Welt unter dem Eindruck der Kernkraftwerk-Schmelze in Tschernobyl steht, beginnt Roland nach Antworten auf Fragen seiner Herkunft und seinem rastlosen Leben zu suchen.
Mit dem Altern des Protagonisten verändern sich im Verlauf der Story auch das Personal in seinem Umfeld sowie die politischen und historischen Rahmenbedingungen, oft in Form dramatischer Entdeckungen und Entwicklungen wie dem Auftauchen eines Halbbruders oder dem Mauerfall 1989. Doch wie spektakulär die Wendungen und Veränderungen in Rolands Leben auch sein mögen – McEwan schildert sie aus der Aussensicht des neutralen Beobachters in seinem so wunderbar unaufgeregten und unbeteiligten, gelassen-distanzierten Stil. Und arbeitet mit diesem Kontrast die bewegenden Seelennöte seines Charakters Roland auf jene eindrückliche Art und Weise heraus, die kaum ein Zweiter so meisterhaft beherrscht wie er.