Mutig, den hochchristlichen Ausdruck «Jahr 0» in den Titel zu integrieren in einem Buch, welches so gar nix mit Jesus und Religion zu tun hat. Das «2020» hingegen weist darauf hin, dass der Hauptdarsteller in diesem Buch ein Virus ist. Und das stimmt dann auch.
Felix Robert Keller hat in seinem knapp 280seitigen Buch rund 90 Geschichten aufgeschrieben, die während der Corona-Zeit im Leben von einem hoch betagten, aber durchaus geistig fitten und körperlich zumindest mobilen Ehepaar stattgefunden haben. Wir begeben uns mit den beiden in alle Lebenslagen, die Menschen – vor allem ältere – während der unseligen Pandemie durchlebt haben. Wir nehmen an ihren eingeschränkten Aktivitäten teil, erleben ihre Sorgen und Gedanken und werden auch Zeugen von kleinen Kabbeleien und Machtkämpfen. Wir treffen mit Paul und Frieda, so heissen die beiden, neue und alte Bekannte, schliessen neue Freundschaften und werden Zeugen, wie das Ehepaar zu einer Art «Ersatzgrosseltern» werden. Die Geschichten sind chronologisch erzählt, d.h. sie beginnen im September 2020 und enden im Juli 2022. Und sie werden mit Medienschlagzeilen eingeführt, die aber leider nicht zu den entsprechenden Erzählwochen passen.
Diese Geschichten sind allesamt kurz gehalten, rührend und sehr kompakt und gut formuliert. Der ausgezeichnete Schreibstil des langjährigen Werbers und Journalisten Keller schlägt voll durch und man muss sich nicht über komische und sinnleere Formulierungen ärgern.
«2020 – Das Jahr 0» hat allerdings in meinen Augen einen entscheidenden Nachteil: Es behandelt eine Thematik, die wir alle eigentlich schnell vergessen wollen und eigentlich ist es verwunderlich, wenn man zu diesem Thema ein Buch lesen will, welches den Anspruch hat, zu unterhalten. Es handelt in einer Pandemie, die während zweier Jahre unser Leben massiv beeinflusst hat und eigentlich nur Nachteile hervorbrachte. Und eine Zeit, die – wenn man alt ist und sich nicht mit beruflichen Widrigkeiten auseinandersetzen musste – eigenlich nur langweilig war: Tagelang eingesperrt und wenig andere Möglichkeiten als ein Spaziergang im Wald. Und so kommt es, dass das Buch natürlich keine Thriller-Qualitäten aufweist, sondern sich eher für die Lektüre zwischendurch eignet. Die Geschichten folgen keinem Plot, sie sind willkürlich zusammengetragen. So kommen dann auch verschiedene Themen, wahrscheinlich wie im richtigen Leben, immer wieder vor: Der Tod des eigenen Kindes, die schmerzende Hüfte, die täglichen Telefonate mit alten Freunden etc. Das kommt dann eben etwas spannungslos daher.
Das Buch ist im IL-Verlag Basel erschienen und kostet etwas um die 20 Franken (je nach Bezugsquelle). Etwas irritierend sind – wie erwähnt – die Medienschlagzeilen, die sich nicht konsequent an die Chronologie der Geschichten anpassen und die Seitenzahlen, die nach Seite 199 wieder bei 1 beginnen.
Der «Erstling» des Autors (er hat bei der Buchtaufe ein zweites Buch nicht ausgeschlossen…) ist amüsant und rührend zu lesen. Ein allfälliges zweites Buch ist hoffentlich einem weniger mühsamen Thema als Covid-19 gewidmet.